Sichtbar durch Pfand: Wer sammelt und warum das zählt

Dan durchstöbert der Reihe nach jeden Mistkübel im Park. Er geht zielgerichtet und routiniert vor. Wird er fündig, steckt er die Dose oder Flasche in die große Ikea-Tasche aus blauer Plane, die an seiner Schulter baumelt. Dan sieht jung aus, Mitte dreißig, vielleicht vierzig. Rotes T-Shirt, bunter Fischerhut, lässiger Gang. Fast unbemerkt fügt er sich in die lockere Feierabendstimmung des Parks ein. Als ich ihn anspreche, lehnt er direkt ab: „Kein Interview“.
Erhan, vielleicht Mitte, Ende zwanzig, ein Cap tief ins Gesicht gezogen, flitzt an mir vorbei. Die eine Hand am Lenker, die andere hält eine Greifzange. Am Lenker seines E-Scooters ist ein Müllbeutel befestigt. Die leeren, leichten Dosen klackern im Fahrtwind. Erhan fegt über den Platz, scannt alle Mistkübel, fischt einige Flaschen mit der Greifzange. Auch Erhan will nicht mit mir sprechen. „Keine Zeit, ich muss weiter“, sagt er und macht sich davon.
Pfandsammler:innen wie Dan und Erhan tauchen inzwischen überall in der Stadt auf. In Parks, an Haltestellen, an der Donau. Überall dort, wo im Freien getrunken wird. Vor allem abends sind sie unterwegs.
Österreich verschwendet zu viel Müll
Es ist ein neues Phänomen. Denn was es in einigen Ländern schon seit Jahren gibt, wurde in Österreich erst im Jänner dieses Jahres eingeführt: ein Pfandsystem. Das war längst überfällig. Alle Mitgliedsstaaten sollen bis 2029 ihre Rückführungsquote von Einweg-Plastikflaschen auf 90 Prozent zu erhöhen. Österreich liegt derzeit bei 70 Prozent. Fast ein Drittel der Ressourcen wird verschwendet. Mit dem neuen Pfandsystem soll sich das bessern.
25 Cent pro Dose oder Flasche bekommt man für das gesammelte Pfand hierzulande. Was manchen keinen Gang zum Automaten wert ist, ist für einige andere eine unentbehrliche Einkommensquelle – meist eine zusätzliche. Das Pfandsystem macht dabei diejenigen sichtbar, die normalerweise im Verborgenen bleiben: Mindestpensionist:innen, Menschen, die Sozialleistungen beziehen oder jene, die von ihrem Einkommen schlicht nicht leben können.
Pfand sammeln mit Scham besetzt
Wie Dan und Erhan wollen sich viele allerdings nicht öffentlich als Pfandsammler:innen zu erkennen geben. Pfandsammeln ist stigmatisiert und wird oft mit Obdachlosigkeit verbunden. Dabei ist die Arbeit gesellschaftlich und ökologisch wertvoll.
Warum ist das so? Wer sammelt in Österreich eigentlich Pfand? Welche Hürden gibt es beim Pfandsammeln? Und was können Städte tun, um das Pfandsammeln zu erleichtern?
„Je mehr, desto leiwander“
Andreas spricht mit mir. Seinen wahren Namen und sein genaues Alter möchte er nicht nennen. Er ist ungefähr 60, war sechs Monate lang im Krankenstand, dann leitete sein Arbeitgeber ein Pensionierungsverfahren ein – das läuft inzwischen seit einem halben Jahr.
Schon bevor das Pfandsystem eingeführt wurde, habe er damit begonnen, in Parks weggeworfene Flaschen zu entsorgen. Damit betreibe er auch Straßenpflege und Mülltrennung im öffentlichen Raum, sagt er. „Es ist extrem viel Müll in den Parks rumgelegen.“
Das Stigma der Armut
Durch das Pfandsystem rentiere es sich jetzt aber, den Müll zu entsorgen. Er freut sich, die gesammelten Dosen und Flaschen mittlerweile gegen ein paar Euro eintauschen zu können. Circa hundert Euro macht er im Monat mit dem Sammeln. Auch wenn er auf das Geld nicht angewiesen sei, denke er jedes Mal, wenn er rausgeht: „Je mehr, desto leiwander“. Besonders viel Pfand sammelte er im Frühjahr und Frühsommer, zurzeit werde es wieder weniger.
Nicht alle Pfandsammler:innen seien auf das Geld angewiesen, die meisten aber schon. Das erklärt der Soziologe Alban Knecht von der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten. Viele sprechen aber nicht gerne darüber. Denn Pfandsammeln ist ein schambesetztes Thema. Das erlebte Knecht auch in Befragungen, die er gemeinsam mit seinen Studierenden durchgeführt hat. Flaschen- oder Pfandsammeln ist unweigerlich mit Armut konnotiert: “Solange Armut gesellschaftlich stigmatisiert wird, ändert sich das auch für die Pfandsammler:innen nicht.”
“Pfandsammeln statt Fitnesscenter”
Andreas dreht immer die gleiche Runde in seinem Bezirk – am Weg zum Mittagessen und zurück. Abends fällt seine Beute besonders groß aus. Das Gute am Flaschensammeln: Er komme raus und bewege sich. Das sei besser als vor dem Fernseher zu versauern. “Dafür gehe ich nicht ins Fitnesscenter”, scherzt er.
Mit anderen Pfandsammler:innen plaudert Andreas hin und wieder. Die allerwenigsten würden Pfand sammeln, weil sie ein gesellschaftspolitisches Zeichen setzen wollen, sagt er. „Eher sind es Leute, die am Rand der Gesellschaft sind und sich Geld dazuverdienen.“
Die Schilderungen sind für den Soziologen Knecht durchaus typisch. “Viele integrieren das Pfandsammeln in ihren Alltag, verstehen es aber nicht als ihren Beruf”, sagt Knecht. Es helfe allerdings, ein bürgerliches Narrativ zu erfüllen: beschäftigt sein. Viele kleiden sich bewusst so, dass sie nicht für Obdachlose gehalten werden.
Falsche Annahmen
Die allgemeine Bevölkerung in Deutschland hält Obdachlosigkeit für den wichtigsten Grund dafür, weshalb Menschen Pfand sammeln. 81 Prozent nennen ihn in einer aktuellen Studie im Auftrag der Initiative „Pfand gehört daneben“. Doch 67 Prozent der Pfandsammler:innen sind nicht obdachlos und waren es auch noch nie.
Den typischen Pfandsammler gibt es nicht. In Deutschland, wo das Flaschen- und Dosenpfand bereits 20 Jahre vor Österreich eingeführt wurde, verfügt der Befragung zufolge die Hälfte über Abitur oder Fachhochschulreife. Circa ein Viertel ist zwischen 35 und 44 Jahre alt, 30 Prozent sind über 55. Die Zahl der Pfandsammler:innen stieg in Deutschland bis vergangenes Jahr auf knapp 1,2 Millionen an. Das liegt unter anderem an den gestiegenen Lebenshaltungskosten, mit denen Löhne, Pensionen und Sozialleistungen nicht Schritt gehalten haben. In diesem Jahr sind es wieder etwas weniger.
Klares System in Österreich
Wichtig ist für die Pfandsammler:innen die Höhe des Pfands. In Deutschland ist die Pfandhöhe nicht einheitlich, sie schwankt zwischen 8 und 25 Cent und wurde seit der Einführung nicht mehr inflationsangepasst. In Österreich gilt dagegen ein einheitliches Pfand von 25 Cent je Flasche oder Dose – ein Pluspunkt für das österreichische System, findet Knecht.
Studien wie jene aus Deutschland gibt es für Österreich noch nicht. Die soziale Situation der Pfandsammler:innen dürfte in Österreich jedoch ähnlich sein: Dann hätten die meisten zwar eine Wohnung, befänden sich aber in finanzieller Not, weil Pension, Einkommen oder Sozialhilfe zum Leben nicht ausreichen, so der Soziologe Knecht.
Warum bringt ihr eure Flaschen nicht selbst zurück?
Auch wenn es ihm Geld bringt, kann Andreas nicht verstehen, warum so viele ihre Flaschen nicht selbst zurückbringen. Oft findet er sogar noch volle oder teils volle Flaschen in den Mistkübeln. Weggeschmissenes Geld, aus seiner Sicht.
Das Pfandsystem offenbart soziale Ungleichheit deutlich: Diejenigen, die es sich leisten können, verzichten auf den Pfanderlös. Diejenigen, die darauf angewiesen sind, profitieren zwar, sagt Knecht, letztlich bleibe die Arbeit der Pfandsammler:innen in der politischen Ausgestaltung von Pfandsystemen aber oft unbeachtet.
Dabei leistet die Arbeit von Pfandsammler:innen einen Beitrag, um den eigens gesteckten politischen Zielen gerecht zu werden. Dank EU-Vorgaben müssen wir unsere Recyclingquote verbessern und Verpackungsmüll verringern. Die Bundesregierung will außerdem bis 2025 Plastikverpackungen um 25 Prozent zu reduzieren.
Weniger Einweg-Verpackungen nötig
Das neu eingeführte Pfandsystem für Einweg-Flaschen wird aber nicht ausreichen, um den wachsenden Verpackungsmüll zu bewältigen. „Ein Pfandsystem ist ein wichtiger Schritt, doch wahre Veränderung entsteht nur mit Mehrweg”, so Madeleine Drescher, Konsumexpertin bei Greenpeace. Um die Plastikflut zu stoppen, schlägt Greenpeace beispielsweise vor, unverpackte Produkte stärker zu fördern und Mehrweg-Alternativen auszubauen.
Trotzdem ist der Wert der Arbeit der Pfandsammler:innen im gegenwärtigen System nicht zu unterschätzen. Dem Englischen Garten beispielsweise, einem der größten Parks in München, sparen die Pfandsammler:innen jährlich um die 50.000 Euro, die sonst für die Müllentsorgung angefallen wären. Ohne sie wären die jährlichen Entsorgungskosten um 40% höher.
Raus aus der Unsicherheit
Deshalb sollte die Arbeit von Pfandsammler:innen entstigmatisiert werden, findet Alban Knecht. Es gibt bereits positive Beispiele, die die Arbeit von Pfandsammler:innen wertschätzen und gleichzeitig Wege aus der Prekarität bieten.
Ein Beispiel: Hamburg. Nachdem der Flughafen Hamburg 2014 Flaschensammler:innen anzeigte, um sie vom Flughafengelände fernzuhalten, startete die Straßenzeitung „Hinz & Kunzt“ eine Online-Petition. Mit Erfolg: Drei Mitarbeiter:innen wurden bei Hinz & Kunzt angestellt. Sie kümmern sich seitdem um den Abtransport des Leerguts, das Fluggäste an Sammelstellen im Flughafengebäude abgeben können. Pro Jahr sammeln sie mehr als 300.000 Flaschen und Dosen und finanzieren damit einen Großteil ihrer eigenen, sozialversicherten Arbeitsplätze.
Pfand gehört daneben
Den Sammler:innen könnten wir alle helfen. Pfandflaschen neben den Mistkübel zu stellen, entlastet sie. In den Mistkübeln nach Flaschen zu fischen, sei eine zusätzliche Überwindung, sagt Andreas. Dadurch steigt auch das Verletzungsrisiko.
Doch was in anderen Ländern gang und gäbe ist, ist in Wien genau genommen sogar strafbar. Das Abstellen leerer Dosen oder Flaschen neben dem Mistkübel gilt laut Wiener Reinhaltegesetz als “Verunreinigung des öffentlichen Raums”. Bis zu 2000 Euro Strafe können bei einer Anzeige fällig werden. Auch die Entnahme von Pfand aus Mistkübeln ist laut Wiener Abfallwirtschaftsgesetz strafbar. Denn alles, was sich in einem MA48-Mistkübel befindet, ist Eigentum der Stadt Wien. Bisher wird das zwar kaum geahndet, trotzdem ist es für alle Beteiligten unangenehm.
Pfandringe als Lösung?
Eine Lösung könnten sogenannte Pfandringe sein. Das fände auch Andreas gut. Die Halterungen werden an Mistkübeln angebracht, sodass man Pfanddosen und -flaschen darin abstellen kann. Pfandsammler:innen können sich dann bedienen, ohne in den Mistkübel greifen zu müssen. Das würde auch Vorfälle unterbinden, bei denen beim Sammeln gelegentlich ein Mülleimer umfällt oder umgeworfen wird. Besonders die Boulevardmedien regen sich wegen solcher Anlässe gerne über alle Pfandsammler:innen auf.
Nicht nur international, sondern auch in Linz, Innsbruck und Graz gibt es bereits Pfandringe. Die Wiener Stadtregierung lehnt Pfandringe ab. Andere Städte hätten schlechte Erfahrungen mit den Metallgestellen gemacht. “In mehreren Großstädten zeigt sich, dass nicht nur Flaschen, sondern auch anderer Abfall wie Kaffeebecher oder Essensreste dort landen. Die Ringe werden so zu Müllmagneten und bringen hygienische Probleme”, so die Wiener MA48 in einer Stellungnahme.
Pfandringe des Widerstands
Laut einer Recherche des „Standard“ werden Pfandringe aber vor allem dann gut angenommen, wenn Städte es schaffen, deren Zweck zu kommunizieren. Auch in Wiener Bezirken gibt es Initiativen. In einer Aktion Mitte Jänner brachten Aktivist:innen von LINKS eigens entworfene, parteifarbene Halterungen an Straßenschildern an. Die Partei reichte außerdem Anträge in mehreren Bezirken ein, um Pilotprojekte für Pfandringe zu starten. Auch die ÖVP veranlasste entsprechende Anträge, etwa in der Josefstadt oder in Margareten.
Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Damit reduziert sich auch die Menge der gesammelten Pfandflaschen für Andreas. Trotzdem wird er vorerst weiter mit dem Fahrrad auf Tour gehen. So oder so bleibt er ein Verfechter des neuen Pfandsystems.