Rettung rufen und Rechnung riskieren?

Lieber einmal zu oft die Rettung rufen als einmal zu wenig. Sagt man doch so. Aber was, wenn die Person, die Hilfe braucht, nach dem Einsatz eine saftige Rechnung bekommt?
Steh auf
Zwei Männer kommen auf uns zu einer mit einer Bierflasche in der Hand. Sie diskutieren darüber, ob der Mann nicht einfach nur betrunken sei. „Steh auf, steh auf!“, ruft der Bierflaschenmann. Zu seinem Freund sagt er: „Der ist nur besoffen. Falscher Alarm.“ Zu dem Mann, der tatsächlich versucht, sich aufzusetzen, dabei aber scheitert, sagt er: „Wenn die Rettung kommt, musst du das bezahlen.“
Ich bin keine Ärztin. Ich sehe einen Mann vor mir, der sich nicht mehr aufsetzen kann. Es ist brütend heiß, der Mann sagt, er wohne im 3. Bezirk. Das ist eine lange Fahrt von hier. Ist er wirklich nur betrunken? Er riecht nicht nach Alkohol. Und selbst, wenn? Was wenn dieser Mann so betrunken ist, dass er nicht mehr gehen kann, auf die Schienen fällt oder vor ein Auto stolpert? Was, wenn er eine Alkoholvergiftung hat oder einen Hitzeschlag? Vor wenigen Jahren lag ein Mann im Aufzug der einer U-Bahnstation. „Wahrscheinlich nur betrunken“, dachten wohl die PassantInnen, die im selben Aufzug fuhren. Niemand hat ihm geholfen. Der Mann ist gestorben.
Entscheidungen, die ich nicht treffen möchte
Der Mann auf dem Gehsteig vor mir sieht nicht so aus, als könnte er eine Rechnung über ein paar Hundert Euro wegstecken. Ich kann ihn nicht fragen, ob er die Rettung braucht, die Sprachbarriere lässt das nicht zu. Ich muss diese Entscheidung treffen. Aber: Lieber einmal zu oft die Rettung rufen als einmal zu wenig. Sagt man doch so. Eine komische Welt, in der PassantInnen abwägen müssen, was schlimmer ist: Keine medizinische Hilfe oder eine saftige Rechnung. Ich möchte diese Entscheidung nicht treffen. Und tue es doch.
Irgendwann ist die Rettung da. Die Sanitäter kümmern sich jetzt um den Mann. Wir bringen unsere Einkäufe in die Wohnung, die Tiefkühlerbsen sind etwas angeschmolzen. Ob meine Entscheidung richtig war?