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Gesundheit
Ungleichheit

Sexuelle Belästigung in der Pflege: "Ich dachte, Augen zu und durch"

Bild zeigt Elke Kieweg bei Interview zu sexuelle Belästigung in der Pflege.
Sexualpädagogin Elke Kieweg arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Pflegerin und musste sexuelle Belästigung erfahren. Sie fordert, nicht länger darüber zu schweigen. Foto: A. Bachmann
Grabschen an Po oder Brust, Intimpflege, die für sexuelle Befriedigung ausgenutzt wird: Für viele Pfleger:innen ist sexuelle Belästigung Alltag. Doch das Thema wird totgeschwiegen, trotz #metoo. Sexualpädagogin und Krankenpflegerin Elke Kieweg möchte das ändern. Sie musste selbst sexuelle Belästigung in der Pflege erleiden und schwieg lange. "Ich habe mich nicht getraut, weil ich mich schämte", sagt sie im MOMENT.at-Interview. 

Kieweg fordert, das Tabu zu brechen. Pfleger:innen sollen erlebte sexualisierte Gewalt ansprechen können und von Vorgesetzten und der Politik gehört werden. Es brauche klare Regeln, um sexuelle Übergriffe zu stoppen. Gleichzeitig müssten ältere Menschen auch mit ihren sexuellen Bedürfnissen wahrgenommen werden.

MOMENT.at: Was ist sexuelle Belästigung in der Pflege?

Elke Kieweg: Sexuelle Belästigung ist es, wenn persönliche Grenzen der Intimsphäre überschritten werden, verbunden mit dem Gefühl des Unwohlseins, Wut, Aggression oder Ekel. Sexuelle Belästigung in der Pflege zeigt sich zum Beispiel durch Klopfen auf den Po oder Berührung der Brüste bei der Mobilisation von Patienten.

Oder auch das Ausnutzen pflegerischer Handlungen zum Zwecke sexueller Stimulation – wie der Wunsch nach intensivem Waschen des Genitalbereichs. Aber auch verbal kann eine pflegerische Handlung sexualisiert werden, durch Witzeln etwa.

MOMENT.at: Was ist für Pfleger:innen besonders belastend?

Kieweg: Für die Pflegerinnen am belastendsten werden die Erektionen bei männlichen Patienten bei der Körperpflege angegeben. Vor allem, weil es kaum Möglichkeiten gibt, dies zu reflektieren und mit den starken, ausgelösten Gefühlen, wie Wut und Ekel, umzugehen. In der Ausbildung wird man kaum bis nicht darauf vorbereitet. Und es fehlt oft das Wissen, dass Erektion und Erregung nicht dasselbe ist.

Es passiert, dass Körperpflege im Intimbereich ausgenutzt wird, um Lust befriedigt zu bekommen.

Man neigt dann dazu, eine Erektion auf sich zu beziehen, obwohl es gar nichts mit mir als Person zu tun hat, sondern der Erektionsreflex ausgelöst wurde durch die Berührung. Ich glaube, in den meisten Fällen ist es auch für die zu pflegende Person schambehaftet und peinlich. Die wenigsten haben dabei irgendwelche erotischen Gefühle, denke ich.

 
MOMENT.at: Das ist also eine Situation, die für beide unangenehm ist.

Kieweg: Unangenehm, genau. Aber es passiert auch, dass Körperpflege oder Handlungen im Intimbereich ausgenutzt werden, um sexuelle Lust befriedigt zu bekommen.

 
MOMENT.at: Sie sprechen mit Pfleger:innen, denen das passiert und geben Fortbildungen zu Sexualpädagogik. Was raten Sie denen?

Kieweg: Anzusprechen, was tabuisiert wird – und zwar dem Patienten und der Pflegedienstleitung gegenüber. Tabus können nur fallen, indem man sie thematisiert. Ich bin Ansprechperson für einzelne Personen, ja. Aber mein Ziel ist, dass Institutionen des Gesundheitswesens begreifen, dass wir sexualpädagogische Konzepte brauchen. Darin sollte festgehalten sein, was zu tun ist, wenn es zu sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt kommt.

 
MOMENT.at: Ändert sich da etwas, auch infolge der Debatte um #metoo?

Kieweg: Es gibt wenig Bewusstsein dafür, dass sexuelle Belästigung in der Pflege passiert. Vor der #metoo-Bewegung wurde überhaupt kaum über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz diskutiert.

Jetzt gerade flackerte das Thema in der österreichischen Filmbranche wieder auf – wenn auch nur kurz. Das Ministerium hat inzwischen eine Stelle eingerichtet, an die sich Betroffene aus Sport und Kultur wenden können.

Das ist gut. Für die Pflege gibt es so etwas meines Wissens bis heute nicht. Obwohl die Pflege wohl der Beruf ist, in dem man sehr häufig mit Verletzungen von Intimgrenzen konfrontiert ist.

 
MOMENT.at: Wie viel müssen Pfleger:innen an sexueller Belästigung erleiden, bevor sie es offen ansprechen?

Kieweg: Das hängt von vielen Faktoren ab. Ein wichtiger ist: Habe ich eine Pflegedienstleitung hinter mir, die mich und meine Erfahrung ernst nimmt? Oder wird diese „bagatellisiert“? Wird also gesagt: Das gehört zu unserem Beruf, das musst du schon aushalten.

Ich dachte: Augen zu und durch! Gleichzeitig wurden Wut und Ekel immer größer.

Ein jüngstes Beispiel: Eine junge Krankenpflegerin hat ihre Stelle gewechselt, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat. Zur sexuellen Belästigung kam noch Rassismus, weil sie eine dunkle Hautfarbe hat. Sie hat ständig Anfragen bekommen, ob sie käuflich sei. Das hat sie nicht mehr ausgehalten und überlegt, dem Beruf völlig den Rücken zu kehren.

 
MOMENT.at: Was macht es mit jungen Pfleger:innen, die in den Beruf kommen und sexuelle Belästigungen erfahren müssen?

Kieweg: Ich habe den Eindruck, junge Pfleger:innen, die jetzt nachkommen, treten selbstbewusster auf. Sie sprechen Probleme eher an. Als junge Krankenpflegerin vor 20 Jahren hatte ich einen Patienten, der immer sagte: Komm, leg dich zu mir ins Bett, ich mache dir ein Kind. Damit konnte ich überhaupt nicht umgehen. Ich habe mich auch nicht getraut, etwas zu sagen, weil ich mich schämte.

Keiner hat darüber gesprochen. Also habe ich es auch nicht gemacht und niemandem davon erzählt. Ich dachte: Augen zu und durch! Gleichzeitig wurden Wut und Ekel immer größer.

Dass der Mann masturbiert, ist nicht das Problem, sondern wie der Umgang damit ist.

Als ich in einer Pflegeeinrichtung für körperbehinderte Menschen arbeitete, hatte ich dort einen jungen Patienten, der immer masturbierte, wenn ich ihn geduscht habe. Als es für mich unerträglich wurde, habe ich es endlich angesprochen. Ab diesem Zeitpunkt hat man einen männlichen Kollegen zu ihm geschickt. Also es geht, Lösungen zu finden.

Heute weiß ich, dass der Mann masturbiert, ist nicht das Problem, sondern wie der Umgang damit ist. Kann ich als Pflegerin, wenn ich in diese Situation komme, das Zimmer verlassen? In der Regel ja. Dann gehe ich und lass den Patienten mit seiner Autoerotik alleine. Sexualität ist schließlich ein Grundbedürfnis und eine wichtige Ressource für ein positives Lebensgefühl und Körperwahrnehmung. Das Badezimmer ist manchmal der einzige Ort in einer Pflegeeinrichtung, wo man als Bewohner:in alleine und ungestört sein kann.

 
MOMENT.at: Und auf der anderen Seite: Können Patient:innen angesprochen werden, ihr Verhalten sexueller Belästigung zu ändern?

Kieweg: Der Wille von Patient:innen oder Klient:innen muss vorhanden sein. Sonst hat man keine Chance. Eine Krankenpflegerin berichtete mir, dass sie einen Klienten hat, der schon bei drei Institutionen rausgeflogen ist wegen sexueller Belästigungen. Jetzt weiß er, die vierte Institution ist seine letzte Chance, und ist daher gewillt sich nun an die Regeln zu halten.

 
MOMENT.at: Sie haben beschrieben, dass Patient:innen ungewollt in Situationen eine Erektion bekommen. Wie kommt es dazu?

Kieweg: Das hängt einerseits mit dem bereits beschriebenen Erektionsreflex zusammen. Aber das nicht-Vorhandensein von Sexualität im Alter, oder bei Menschen mit Behinderung, ist ein bloßer Mythos. Das Bedürfnis nach Berührung und Zuwendung erlischt niemals, und ist bis in den Tod von großer Bedeutung.

Wenn viele Dinge wegbrechen, ist Lust etwas, wo noch Lebensfreude erfahrbar ist.

Nicht jede Verhaltensweise, die im ersten Moment als sexualisiert erscheint, hat einen sexuellen Hintergrund. Vielleicht ist es dieser Mensch gewöhnt, dass er immer nackt herumläuft, weil er in seiner Wohnung immer nackt war. Vielleicht hat er sich zu Hause nie die Hose zugemacht, nachdem er auf der Toilette war und macht es jetzt halt auch nicht. Vielleicht erinnert ihn die Pflegeperson an jemanden und er versucht deswegen, sie zu berühren.

 
MOMENT.at: Was kann getan werden, damit es seltener zu solchen für beide Seiten belastenden Pflegesituationen kommt?

Kieweg: Es wird in den Pflegeheimen oft verabsäumt, die Körperwahrnehmung der Patient:innen oder Klient:innen zu fördern und zu erhalten. Je weniger Sinneseindrücke, desto mehr geht das Gefühl für den eigenen Körper und Körpergrenzen verloren, und mehr Grenzüberschreitungen können passieren.

Ein Leitsatz in der Sexualpädagogik ist: Es muss in der Pflege normal sein, die sexuelle Ebene eines Menschen zu berücksichtigen. Ist dem nicht so, werden ausschließlich besonders ungewöhnliche, auffällige sexuelle Verhaltensweisen herausstechen können. Denn erst dann wird die Person auch als sexuelles Wesen wahrgenommen. Es ist ein profunder und maßgeblicher Teil der Identität. Das trifft besonders ältere Menschen, deren identitätsstiftende Rollen wegfallen wie Mutter oder Vater sein, Ehepartner:in oder Vereinsmitglied.
 

MOMENT.at: Wenn Patient:innen auffällig werden, dann ist es für die Pfleger:innen doch noch aufwendiger, sie angemessen zu pflegen?

Kieweg: Es gibt keine Zeit und keinen Raum. Wie auch, wenn die personellen Ressourcen derart schlecht sind. Die Pfleger:innen sind am Anschlag und schaffen kaum das Pensum der Grundpflege. Und was ist die Konsequenz? Patient:innen werden mit Medikamenten ruhiggestellt und äußern keine Bedürfnisse.

Wenn wir das nicht lösen, steuern wir tiefer in den Pflegekräftemangel.

Jetzt kommt dazu: Wir haben einen Generationenwechsel in den Altenheimen. Die in den 1950er und 60er Jahren Geborenen sind ganz anders sozialisiert worden hinsichtlich ihrer Sexualität als die Generationen davor. Es wird normal, dass Klient:innen ihre Sexspielzeuge ins Altenheim mitnehmen. Das war vorher nie Thema. Pfleger:innen sind mit neuen Situationen konfrontiert.

Dann gibt es vielleicht nur Drei-Bett-Zimmer für Bewohner:innen. Wie schafft man es, die notwendige Intimität zu gewähren, damit sie ihre Lust noch leben können? Wenn im Alter ganz viele Dinge wegbrechen, ist Lust und Sexualität ein Bereich, wo noch Lebensfreude und Lebensqualität erfahrbar ist.

 
MOMENT.at: Wird inzwischen in den Pflegeheimen und Krankenhäusern mehr auf Fälle von sexueller Belästigung geschaut, wie Sie sie erlebt haben?

Kieweg: Ja, Pflegedienst-Leiter:innen erkennen immer mehr die Not ihrer Angestellten und wollen etwas dagegen unternehmen. Das ist auch dem Personalmangel geschuldet. Die Institutionen merken: Hoppla, da gibt es ein Problem, wir müssen dem Beachtung schenken.

Denn wenn wir das nicht lösen, dann steuern wir noch tiefer in den Pflegekräftemangel. Die psychischen und körperlichen Belastungen werden immer häufiger als Grund genannt, dass Pfleger:innen aus dem Beruf aussteigen.

Wenn ich weiß, der Patient grabscht wieder. Das führt zu Aggression.

Doch was ist das genau? Es sind natürlich die Arbeitszeiten. Es sind die Überstunden, die ständig zu leisten sind. Es ist, dass ich meinem ethischen Anspruch als Pflegerin gar nicht mehr gerecht werden kann, wenn ich nur noch das Notwendigste für die Patient:innen leisten kann. Das stimmt!

Aber belastend ist es auch, wenn ständig über meine eigenen Intimgrenzen gegangen wird. Wenn ich in der Früh weiß: Gehe ich zum Patienten XY ins Zimmer, dann grabscht er wieder. Das führt zu Frustration und Aggression, und schlussendlich zu Depression und Burnout.
 

MOMENT.at: Was muss getan werden, damit das Pflegepersonal sich mit diesem Frust nicht alleine gelassen fühlt, sondern gehört wird?

Kieweg: Also wir müssen das Thema sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt in der Pflege angehen. Aber ich habe im Moment nicht das Gefühl, dass von oberster Stelle des Gesundheitswesens eine Notwendigkeit dafür gesehen wird.

Ich möchte betonen: Sexuelle Belästigung ist eine Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und nach dem Gleichbehandlungsgesetz verboten. Arbeitgeber:innen sind verpflichtet, bei sexueller Belästigung im Unternehmen angemessene Abhilfe zu leisten, also Handlungen zu setzen, die weitere Belästigungen verhindern.

MOMENT.at: Sie bieten sexualpädagogische Fortbildung an. Wie läuft das: Gehen Sie in die Pflegeinstitution und halten Seminare ab?

Kieweg: In der Regel kommt die Pflegedienstleitung einer Einrichtung auf mich zu, dass sie gerne eine Fortbildung zur Sexualpädagogik hätten nach einem Anlassfall. Dann frage ich, welche Themen und Probleme bestehen und erstelle ein Konzept.

Es braucht klare Regeln und die gehören signalisiert: die erhobene Hand für Stopp!

Man denkt sich jetzt vielleicht: Okay, wir machen jetzt ein achtstündiges Seminar dazu und damit ist es getan. Das ist es nicht! Es ist sinnvoll, nach sechs oder acht Wochen wieder in die Institution zu kommen und nachzufragen: Wie geht es euch mit dem neuen Wissen? Wie geht es euch in der Umsetzung? Was ist neu aufgetaucht an Problemen und Fragen? Und dann braucht es aber auch ein klares Konzept, nach dem alle arbeiten.

Ein Beispiel: Wenn es für Pflegerin Ines noch erträglich ist, dass der Herr Meier sie beim Mobilisieren immer am Hintern begrapscht, Pflegerin Gabriele aber sagt, sie halte das nicht aus, dann kennt sich der demente Herr Meier nicht mehr aus. Es braucht klare Regeln, an die er sich zu halten hat, und diese gehören immer wieder kommuniziert und mit Gesten signalisiert: die erhobene Hand für Stopp!

 
MOMENT.at: Kommen auch männliche Pflegebeschäftigte in ihre Fortbildung und Beratung und welche Erfahrungen machen die mit sexueller Belästigung in der Pflege?

Kieweg: Das würde mich auch interessieren. Ich kann es Ihnen nicht beantworten. Bisher kam kein einziger männlicher Pfleger zu einer meiner Fortbildungen.

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