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Warum es Sonderschulen für “erziehungsschwierige” Kinder immer noch gibt – und warum es sie nicht mehr geben sollte

In Sondererziehungsschulen sollen erziehungsschwierige Kinder unterrichtet werden. Man sieht einen kleinen Jungen mit blau karriertem Hemd. Er hat die Hände verschränkt und blickt neutral in die Kamera. Der Hintergrund ist verschwommen.
In Sondererziehungsschulen sollen "erziehungsschwierige" Kinder unterrichtet werden. Foto: Gabriel Tovar/Unsplash
Die Einbindung in die allgemeine Gesellschaft (Inklusion) ist ein Menschenrecht. Dennoch existieren in Österreich sogenannte Sondererziehungsschulen. Sie sind eine besondere Form der Sonderschule, in der Kinder unterrichtet werden, die in regulären Schulen keinen Platz finden. Warum ist das so?

“Die Schüler:innen haben ein Wochenende hinter sich. Meiner Kollegin und mir gehen die üblichen Gedanken durch den Kopf: Was war wieder los am Wochenende, wo haben sich unsere Schützlinge herumgetrieben, was haben sie erlebt, verarbeitet oder nicht verarbeitet? Wer hatte Polizeikontakt? In welcher Stimmung werden sie zum Unterricht kommen? […] Die knisternde Spannung des Wochenbeginns liegt in der Luft.” So beginnt Herbert Stadler seine Erzählung über einen ganz gewöhnlichen Tag in der Sondererziehungsschule. Vor 30 Jahren war Stadler einer der ersten Sondererziehungslehrer:innen. Heute wird seine Schule kritisiert.

Acht Sondererziehungsschulen gibt es derzeit in Wien. Wie viele es in ganz Österreich gibt, sei nicht so einfach festzustellen, sagt das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Die Sondererziehungsschule ist eine Unterkategorie der Sonderschule. Von Letzterer gibt es in Österreich aktuell 232 Stück. Während die meisten Sonderschulen ihre Tore für Kinder und Jugendliche mit kognitiven und körperlichen Behinderungen, mit Gehör- oder Seh-Andersartigkeiten öffnet, widmet sich die Sondererziehungsschule Schüler:innen, die als “schwer erziehbar” gelten. 

Sonderschulen sind nicht inklusiv

Dieses Konzept ist umstritten. Weil es unterschiedliche Kinder und Jugendliche in verschiedenen Einrichtungen voneinander trennt, ist es nicht inklusiv. Dabei ist Inklusion ein Menschenrecht. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen drängt Österreich und alle weiteren EU-Mitglieder bereits seit 2008 dazu, die Zweiteilung des Bildungssystems abzuschaffen. Die Behindertenrechtsbewegung pocht sogar schon seit den 1970er Jahren darauf. Warum existieren die Schulen also immer noch, was passiert in ihnen und wer sind die Schüler:innen, die sie besuchen?

“Wir haben Kinder, die auf die schiefe Bahn geraten sind, die schlimme Erfahrungen gemacht haben. Die schon fünf Mal die Schule gewechselt und vielleicht auch zuhause massive Probleme haben”, erklärt Rupert Corazza, der in der Wiener Bildungsdirektion für Sonderschulen zuständig ist. Und Daniela Kolby-Orovits, die in Wien Simmering eine Sondererziehungsschule leitet, fügt hinzu: “Viele unserer Kinder haben Krankheitsdiagnosen, unter anderem ADHS.” Sie haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, brauchen viel Bewegung und fallen oft durch laute Worte auf. Aber auch Probleme in der Erziehung sind nicht selten und psychiatrische Hintergründe kommen genauso vor, erklärt sie, während sie hinter ihrem großen, hellbraunen Tisch im Direktorat der Schule sitzt. Manche haben einfach nie gelernt altersgerecht still zu sitzen, andere kommen direkt aus der psychiatrischen Abteilung in die Schule. “Das sind Kinder, die wir in regulären Klassen mit 25 Schüler:innen nicht mehr entsprechend unterrichten können”, erklärt Corazza am Telefon.

Sondererziehungsschulen: Kleine Klassen, gut betreut

In Sondererziehungsschulen ist die Zahl der Schüler:innen klein und die der Lehrer:innen verhältnismäßig groß. In Kolby-Orovits “besonderer Schule für besondere Kinder”, wie sie gerne sagt, hat jede Klasse sechs Schüler:innen und zwei Lehrer:innen. So haben die Pädagog:innen Zeit, ganz individuell mit den Bedürfnissen der Kinder zu arbeiten. Wenn ein Kind plötzlich aufspringt und aus dem Klassenraum läuft, kann eine Person folgen, während die andere mit den restlichen Schüler:innen bleibt. 

Wenn ein Kind von seiner Wut gepackt wird und seinen Sessel durch das Zimmer schleudern will, kann jemand es beruhigen, während sich immer noch jemand den restlichen Kindern widmet. “Ein wesentlicher Bestandteil ist der Austausch mit anderen Institutionen. Wir telefonieren beispielsweise mit Therapeut:innen und fragen individuell nach, wie wir handeln sollen”, erzählt die Schulleiterin. Mit den Familien der Kinder wird eng zusammengearbeitet und auch inhaltlich kann viel mehr auf die Lernprobleme der Kinder eingegangen werden. Da kann es schonmal sein, dass in einer Klasse mit sechs Schüler:innen sechs verschiedene Lehrpläne verfolgt werden, lacht Kolby-Orovits.

Der reguläre Lehrplan ist das Ziel

Dennoch ist es ein zentrales Ziel, den allgemeinen Lehrplan der Volk- und Mittelschulen zu verfolgen. Nach zwei bis drei Jahren sollen Sondererziehungsschüler:innen nämlich wieder in den regulären Schulbetrieb rückgeführt werden. “Es geht darum, ein Netz zu spannen, das Kind aufzufangen und zu schauen, woran wir arbeiten müssen”, sagt die Direktorin. Die Sondererziehungsschule soll als vorübergehende Auszeit verstanden werden. 

Vorteile erkennt auch Lukas Zamarin-Scholz, der im Verein Faktor C bildungsbenachteiligte Jugendliche aus Sonderschulen unterstützt: “Manche Schüler:innen kommen einfach besser zurecht, wenn sie merken, dass es auch andere gibt, die, so wie sie, mehr Unterstützung brauchen. In der Regelschule hingegen fühlen sie sich oft wie Sonderlinge, die in vielen Fällen auch gemobbt werden”.

Besser für die Kinder? Dafür gibt es keinen Beleg

“Sonderschulen werden immer als Schonraum konstruiert, in dem Schüler:innen in ihrem individuellen Takt gefördert werden, in dem nicht gemobbt wird, in dem keine Gewalt passiert”, sagt Tobias Buchner. Der Wissenschaftler forscht und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich zu Inklusion im Bildungsbereich und sieht die Sache anders. “Zumindest in Österreich gibt es überhaupt keine empirischen Befunde dafür, dass Sonderschulen für die Schüler:innen besser sind.” 

Ginge es nach ihm, würde man konform zu den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention die räumliche Trennung der Schulen abschaffen. Die Ausgrenzung der Schüler:innen aus den regulären Schulen, wirke häufig benachteiligend, erklärt der Forscher. Sonderschüler:innen empfinden sich selbst als zunehmend mangelhaft, je länger sie von den anderen Schüler:innen abgetrennt sind. Zudem fallen auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt geringer aus. Auch die Rückführung von Sonderschüler:innen in reguläre Klassen hat Buchner selten gesehen. “Meistens kommen sie von einer Sondermaßnahme in die nächste und in die nächste”, erklärt der Wissenschaftler, “und landen dann auch in Sondereinrichtungen am Arbeitsmarkt.”

Widerspruch aus der Praxis

Die Schulleiterin Daniela Kolby-Orovits sieht das anders: Ihrer Erzählung nach bleiben kaum Jugendliche bis zum Schluss in der Sondererziehungsschule. Wenn doch, werde alles dran gesetzt, den Schüler:innen einen passenden Berufseinstieg zu ermöglichen. Die meisten Schüler:innen machen eine Lehre. Höhere Bildungsabschlüsse sind äußerst selten. Den Auslöser dafür sieht die Leiterin jedoch nicht im Besuch der Sondererziehungsschule. “Auf unseren Schulzeugnissen steht ‘Schule der Stadt Wien’. Wer unsere Schule nicht kennt, weiß auch nicht, dass sie eine Sonderschule ist”, erklärt die Direktorin. So wird der Stigmatisierung der Kinder entgegengewirkt. “Viele Kinder kommen aber bereits aus bildungsfernen Familien.” Arbeiterkinder studieren in Österreich allgemein deutlich seltener als Akademikerkinder.

“Am liebsten hätten wir natürlich kein einziges Kind in einer Sonderform”, antwortet Corazza auf die Inklusionsforderungen. “Wir wollen keine isolierte Sondererziehungsschulen sein, die mit regulären Schulen nichts zu schaffen haben.” Das sieht auch Kolby-Orovits so. Solange aber an regulären Schulen kein ganzheitlicher Unterricht möglich ist, braucht es das getrennte System einfach, ist sie sich sicher. Das Problem fängt bei zu geringen Personalressourcen und zu großen Klassen an, erklärt sie, und endet bei den Einschneidungen einer tiefgründigen Lehrer:innenausbildung. “Wenn Lehrer:innen 25 Kinder in einer Klasse haben, haben sie ganz unterschiedliche Kinder mit verschiedenen Bedürfnissen darin. Gleichzeitig müssen sie den regulären Lehrplan voranbringen. Das ist ein sehr großes Paket, das eine Lehrkraft schaffen muss. Die eierlegende Wollmilchsau, wie man sagt.”

„Schulsystem ist nicht chancengerecht“

Die Wurzel des Problems sehen Buchner und der Jugendcoach Lukas Zamarin-Scholz in gesamtgesellschaftlichen Denkweisen. “Beim Leistungsgedanken und bei der Sensibilisierung zum Thema Andersartigkeit ist die Gesellschaft einfach noch nicht so weit”, sagt Zamarin-Scholz und Buchner erklärt: “Wir haben ein System, das auf die Gestaltung von Normalschüler:innen ausgerichtet ist, die ein ‘Normalverhalten’ zeigen und ‘normal schnell lernen’ sollen”, erklärt er. “Wenn ich eine etwas längere schwierige Phase habe und ein bisschen verzögert bin, laufe ich schnell in Gefahr, als anders oder verhaltensauffällig kategorisiert zu werden. Dann falle ich in der Schule schnell raus und werde abgesondert. Der Erfolg in unserem leistungszentrierten Schulsystem ist nicht chancengerecht.”

Damit es zu solch einer Absonderung gar nicht erst kommt, setzen Kolby-Orovits und ihre Kolleg:innen daher auf vorbeugende Arbeit. Ausgehend von ihrer Schule senden sie Beratungslehrer:innen in reguläre Schulen, um für Unterstützung vor Ort zu sorgen und Wechsel in Sondererziehungsschulen entgegenzuwirken. Doch die Ressourcen sind gering. Die mobilen Lehrer:innen sind meist für mehrere Schulen auf einmal zuständig und kommen somit schon mal auf bis zu 100 Kinder, die mal mehr und mal weniger Unterstützung benötigen. “Würde mich jemand fragen, was ich mir wünsche”, sagt Kolby-Orovits, “würde ich sagen: Mehr Stunden für mobile Lehrer:innen und eine:n Beratungslehrer:in pro Schule.”

Inklusion nur aufgesetzt

Auch Buchner sieht in einer grundlegenden Überarbeitung des gesamten Schulbereichs die Lösung des Problems. “Bisher war Inklusion nur ein Aufsatz auf ein Bildungssystem, das sich seit 200 Jahren nicht geändert hat”, sagt er. Dabei müsste das ganze System inklusiv neu aufgestellt werden. Beispielsweise könnte durch den Einsatz von Schulsozialarbeiter:innen enger mit Familien zusammengearbeitet werden, um Probleme schon früh zu erkennen. In kleinen Lerngruppen könnten Schüler:innen mit verschiedenartigen Hintergründen Chancengleichheit und Solidarität erlernen. In Italien und einer Region Tirols wurde das zweigeteilte Schulsystem schon abgeschafft, erklärt der Forscher. Das zeigt, dass das zweigeteilte System nicht ‚von Natur aus‘ besteht, sondern verändert werden könnte.

Das wäre gerade jetzt wichtig. Laut Studien der Donau-Universität Krems ist während der Corona-Pandemie mehr als die Hälfte der Schüler:innen psychisch belastet. “Aus den Lockdowns kommen Kinder mit Ängsten und anderen Problemen zurück, die vorher gar keine hatten”, sagt auch Daniela Kolby-Orovits. “Ich glaube, dass uns das noch die nächsten Jahre beschäftigen wird.”

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