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Arbeitswelt
Gesundheit

Ich betreue traumatisierte Kleinkinder in einer WG – unter schwierigen Bedingungen

Ich betreue traumatisierte Kleinkinder in einer WG – unter schwierigen Bedingungen
Leonie* betreut traumatisierte Kleinkinder in einer Wohngemeinschaft. Die Kinder können nicht mehr bei ihren Eltern wohnen, weil diese zum Beispiel gewalttätig sind. Leonie ist 25 und übernimmt für sie eine Art Mutterrolle - unter schwierigen Bedingungen.

Erst, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, kommen kleine Kinder in Wohngemeinschaften. Die Kleinkinder in der WG, in der ich arbeite, haben oft gewalttätige Väter. Ich betreue mit meinen Kolleg:innen sieben Kinder. Bei sechs von ihnen ist uns schon jetzt klar, dass sie wohl nie wieder bei ihren Eltern leben werden. Das bedeutet, dass wir ihre wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen sind. Die Kinder wachsen miteinander wie Geschwister auf.

Ein normaler Arbeitstag sieht für mich so aus: Die Kinder stehen etwa um 6 Uhr auf. Ich mache Frühstück und helfe beim Anziehen. Dann geht es in den Kindergarten. Am Nachmittag gehen wir auf den Spielplatz, basteln etwas oder üben Dinge wie die Zahlenfolge.

Die Kinder sind häufig krank, haben Albträume

Ich habe viele Nachtdienste. Sie beginnen am frühen Nachmittag und enden am Vormittag. Eigentlich sollen wir in der Nacht schlafen. Vier Stunden sind deshalb unbezahlt. In der Praxis geht das kaum. Die Kinder sind teilweise traumatisiert, wachend schreiend auf, weil sie Albträume haben. Sie sind häufig krank und brauchen auch in der Nacht Betreuung.

Am Wochenende dürfen manche Kinder einen ganzen Nachmittag bei den Eltern verbringen. Andere sehen sie nur in der WG unter unserer Anleitung. In diesen Stunden sollen wir den Eltern auch zeigen, wie sie wertvolle Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Anstatt zum Beispiel Videos am Handy zu schauen, schlagen wir Spiele vor. Manche Eltern können schwer akzeptieren, dass wir jetzt die Verantwortung für die Kinder tragen.

Mit der Zeit habe ich für manche Kinder eine Art Mutterrolle eingenommen. In der Ausbildung hat es immer geheißen, wir müssen uns abgrenzen. Das ist aber so viel schwieriger, als es sich anhört. Ich gestalte den Alltag der Kinder. Bringe sie ins Bett, lese am Abend etwas vor, wechsle Windeln. Ich bin da, wenn sie sich wehtun, wenn sie sich weigern, in den Kindergarten zu gehen oder traurig sind.

Ich gehe krank in die Arbeit, um meine Kolleg:innen nicht zu belasten

Es gibt Kinder, die sind mir richtig ans Herz gewachsen. Manchmal spiele ich sogar mit dem Gedanken, eines der Kinder zu adoptieren. Denn die Wohngemeinschaft ist nur für Kleinkinder. Vor der Volksschule sollen sie alle in andere WGs ausziehen. Für diese Altersgruppe gibt es deutlich mehr Angebote – umgekehrt warten viele Kleinkinder auf einen WG-Platz.

Ein fünf Jahre altes Mädchen soll in den kommenden Wochen mit ihrem Bruder in eine andere WG ziehen. Ich finde das schlimm. Nicht nur, weil wir als Bezugspersonen wegfallen. Das ganze Umfeld ändert sich: das Haus, die Umgebung und die anderen Kinder. Weil der Umzug noch nicht fix ist, weiß das Mädchen noch nichts davon. Ich kann nicht einschätzen, wie sie reagieren wird. Und wie wird es mir gehen, wenn ich weiß, ich sehe sie nie wieder?

Traumatisierte Kleinkinder: Emotional schwierige Arbeit

Wie schwierig die Arbeit emotional ist, habe ich mir während der Ausbildung noch nicht ausmalen können. In meiner Freizeit kann ich schlecht abschalten. Ich denke oft daran, wie es den Kindern geht. Weil wir zu wenig Personal haben, muss ich oft einspringen. Für freie Tage kann ich deswegen nur wenig planen. Gleichzeitig gehe ich krank in die Arbeit, weil meine Kolleg:innen nicht zusätzlich belasten will.

Das ist ein Teufelskreis, den das ganze Team aufrechterhält – zum Wohle der Kinder. So funktioniert das oft im Sozialbereich. Den Mitarbeiter:innen sind die Menschen so wichtig, dass sie sich verausgaben.

Mich macht das wütend. Wir konnten am Anfang der Pandemie nicht zu Hause bleiben. Als noch gar nicht klar war, wie gefährlich das Virus ist, mussten wir zu den Kindern. Als dank gab es einen kleinen Bonus und ein bisschen Applaus. Unsere Arbeit ist unsichtbar. Kaum jemand weiß, dass es diese Kleinkind-WGs gibt und wie anstrengend die Arbeit dort wirklich ist. Manche glauben, wir chillen den ganzen Tag am Spielplatz. Wenige verstehen, wie es ist, mit traumatisierten Kindern zu arbeiten. Ich weiß nicht, wie lange ich die Arbeit unter diesen Bedingungen noch machen kann.

 

(*Name geändert)

 


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