Agota Lavoyer: “Wir brauchen Männer, die bereit sind, zum Feind des Manns zu werden.”
MOMENT: Du schreibst in deinem Buch, dass wir als Gesellschaft nach Außen hin sexualisierte Gewalt stark verurteilen. Nun hat ein verurteilter Sexualstraftäter das mächtigste Amt der Welt gegen eine Frau gewonnen. Musst du die Aussage überdenken?
Agota Lavoyer: Was ich damit meine: Wenn wir eine Straßenumfrage machen würden, mit der Frage: “Findest du sexualisierte Gewalt okay, oder nicht?” würden wohl alle Menschen mit “Nein” antworten.
Würde man sie fragen, was überhaupt sexualisierte Gewalt ist, würden die Antworten sehr weit auseinandergehen. Darin liegt eines der großen Probleme. Wir erkennen sexualisierte Gewalt oft nicht als solche an, sondern verharmlosen sie. Und selbst wenn, wird Frauen oft nicht geglaubt.
Was Trump betrifft: Offenbar wählen die Menschen zwischen einem verurteilten Sexualstraftäter und einer schwarzen Frau immer noch den Straftäter. Das ist natürlich erschreckend. Vor allem auch, was das auf Social Media auslöst. Den Spruch “Your body, my choice” haben sogar meine jugendlichen Kinder schon mitbekommen.
MOMENT: Eine neue EU-Umfrage hat gezeigt, dass jede dritte Frau bereits Gewalt erlebt hat. Die Grundaussage deines Buchs ist, dass jede Frau betroffen ist. Wie kommt es zu dem Unterschied?
Lavoyer: Man muss die Zahlen mit Vorsicht genießen. Ich und viele andere Fachpersonen benutzen eine breite Definition von sexualisierter Gewalt, nicht nur eine juristische. Es gibt viele Formen, die juristisch nicht erfasst werden. Etwa Catcalling, also jemandem etwas hinterherrufen oder nachpfeifen, oder das unerwünschte Versenden von Dickpics. Wenn wir die Zahlen dazu mit einbeziehen, sind wir eigentlich bei nahezu 100 Prozent, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Es gibt wirklich keine Frau, trans Person oder nonbinäre Person, die nicht in irgendeiner Form erfahren hat, wie ihre sexuellen Grenzen verletzt wurden.
Die Frage ist: Würden Betroffene das selbst auch so einordnen? Eine 85-jährige Frau hat mir vor kurzem vom Besuch eines Nachbarn erzählt. Er kam zum Kaffee – und hat ihr dabei die Bluse hochgehoben. Sie hat dazu gesagt: “Weißt du, das ist schon ein bisschen ein Frecher”. Sie würde das wohl nicht als sexualisierten Übergriff bezeichnen. Aber ich denke, sie hat dasselbe empfunden, wie ich, wäre es mir passiert.
MOMENT: Wo genau beginnt sexualisierte Gewalt dann? Was verstehst du darunter?
Lavoyer: Erstmal ganz banal als jede Form unerwünschter sexualisierter Grenzverletzung.
Es gibt einerseits einen gesellschaftlichen Konsens darüber, was eine sexualisierte Handlung ist, beispielsweise ein Zungenkuss. Ein unerwünschter Zungenkuss ist also sexualisierte Gewalt.
Andererseits ist eine Handlung auch dann sexualisiert, wenn ich sie so empfinde. Das ist individuell. Das kann schon ein Blick sein, der sich furchtbar anfühlt, etwa von Vorgesetzten am Arbeitsplatz. Aber auch die schlüpfrigen Bemerkungen vom Onkel am Weihnachtstisch, die extrem unangenehm sind. Man hat die vielleicht schon als Jugendliche erlebt, aber vielleicht gar nicht verstanden, warum sie diese Gefühle auslösen. Oft braucht es Wissen von außen, um die richtig einordnen zu können.
Sexualisierte Gewalt sind keine naturgegebenen Delikte. Die passieren nicht deswegen, weil Männer eben Männer sind.
MOMENT: Dein Buch richtet sich explizit gegen die “Rape Culture”, in der wir leben. Das ist ein sehr starker Begriff, der wohl auch auf viel Widerstand trifft. Leben wir wirklich in einer Kultur der Vergewaltigung?
Lavoyer: Der Begriff stößt auch auf viel Abwehr, weil er falsch verstanden wird. “Rape” wird im Englischen viel breiter definiert als “Vergewaltigung” im Deutschen. Ich würde Rape Culture eher als “Kultur der sexualisierten Gewalt” übersetzen.
Damit ist gemeint, dass sexualisierte Gewalt keine naturgegebenen Delikte sind. Die passieren nicht deswegen, weil Männer eben Männer sind. Es sind kulturelle Botschaften und Normen, die weitergegeben werden. Die führen dazu, dass sexualisierte Gewalt ignoriert oder verharmlost wird; dass Betroffene oft stigmatisiert und abgewertet werden, während wir die Täter entlasten oder entschuldigen.
Es ist eben kein Zufall, dass das Ausmaß sexualisierter Gewalt so groß ist. Oder warum die meisten Täter Männer und die meisten Opfer Frauen oder marginalisierte Männer sind.
Rape Culture ist eine Gesellschaft, die lieber fragt, wieso eine Frau sich so sexy angezogen hat, wieso sie getrunken hat, wieso sie allein unterwegs war, wieso sie mit zu ihm nach Hause gegangen ist oder wieso sie ihn nicht schon früher verlassen hat, als zu verurteilen, dass er es getan hat.
MOMENT: Es gab im vergangenen Jahr einige schockierende Fälle von sexualisierter Gewalt an Frauen. Der Fall von Gisèle Pelicot, die von ihrem Mann zur Vergewaltigung angeboten wurde, sticht da wohl hervor. Überrascht dich so etwas noch?
Lavoyer: Ich bin vom Ausmaß natürlich schockiert. Aber überraschend finde ich ihn leider nicht. Ich habe bei der Opferhilfe auch Frauen beraten, die sediert und dann Männern zur Vergewaltigung angeboten wurden.
Man kann an ihm sehr gut aufzeigen, was Rape Culture bedeutet. Zum einen gab es die Männer, die Gewalt ausgeübt haben. Aber man sollte auch etwas anderes bedenken: Die Website, auf der Pelicot “angepriesen” wurde, war zehn Jahre lang online. Bis sie offline genommen wurde, haben 50.000 Menschen sie monatlich besucht. Wie viele von ihnen haben eine Meldung bei der Polizei gemacht? Null. Hunderttausende Menschen, die einfach weggeschaut oder nichts unternommen haben.
Die allermeisten Täter kommen aus den umliegenden Dörfern. Das sind nicht die schlimmsten Männer der Welt, die extra eingeflogen wurden. Das war der Lehrer, der Stadtrat, der Feuerwehrmann, der Vater und Ehemann – ganz normale Bürger.
Sehr viele Opfer sind nicht Gisèle. Auch sie verdienen aber unsere bedingungslose Unterstützung.
MOMENT: Kann so ein extremer Fall für Veränderung sorgen?
Lavoyer: Auch ich bin beeindruckt von Pelicot und ihren Botschaften. Es hat enorm viel Proteste und Berichterstattung ausgelöst, nicht nur in Frankreich. Das kann durchaus etwas bewirken.
Man muss sich aber auch eines bewusst sein: Pelicot hat wirklich nur Mitgefühl erhalten, die Berichterstattung war äußerst unterstützend – völlig zurecht. Aber was wäre gewesen, wenn sie etwa eine Sexarbeiterin oder ein C-Promi mit gemachten Brüsten gewesen wäre? Dann wäre sie von gewissen Menschen bestimmt auch beschämt worden oder man hätte ihr unterstellt, es gewollt zu haben.
Sehr viele Opfer sind nicht Gisèle. Auch sie verdienen aber unsere bedingungslose Unterstützung.
MOMENT: Du schreibst in deinem Buch davon, dass Männer zu Tätern erzogen werden. Bin auch ich ein potenzieller Täter?
Lavoyer: Wenn du eine klassisch männliche Sozialisation genossen hast, wurde vermutlich der Samen zur Täterschaft gelegt. Du kannst dich natürlich dagegen wehren, indem du dir Wissen aneignest, dein Verhalten reflektierst und dich änderst. Das ist die positivste Nachricht, die ich mitgeben kann: Wir können unsere Sozialisation auch wieder entlernen.
MOMENT: Wie sieht das in der Praxis aus? Mir wurde ja nie beigebracht, dass es gut ist, Frauen zu belästigen.
Lavoyer: Buben kriegen mitgegeben, dass sie das starke Geschlecht sind. Sie sind unabhängig, rational, nicht auf Hilfe angewiesen und vor allem: Sie sind nicht so wie Mädchen. Du willst doch nicht wie ein Mädchen werfen oder so emotional wie eines reagieren, oder?
Dir wird mitgeben, dass du auf keinen Fall wie ein Mädchen sein willst. So wächst du mit einem sexistischen und frauenfeindlichen Bild auf. Du findest als heterosexueller Jugendlicher Frauen vielleicht sexuell attraktiv. Aber gleichzeitig findest du Frauen und weiblich konnotierte Eigenschaften scheiße. Das ist ein riesiger Widerspruch.
Das führt dazu, dass sich Jugendliche viel mehr mit Männern solidarisieren, männliche Vorbilder haben und sich unter Männern wohler fühlen. Von Frauen erwarten sie Fürsorge auf allen Ebenen oder dass sie einem Sex schulden. Aber sie begegnen ihnen nicht auf Augenhöhe.
Männer verstecken sich dahinter, dass sie keine Frauen schlagen oder vergewaltigen. Und sehen sich dann als einen der “Guten”.
MOMENT: Viele Männer werden da einwerfen, dass sie keine Täter sind. Aber profitiere ich als Mann nicht auch davon, dass es andere sind?
Lavoyer: Ja. Du profitierst davon, weil sich Frauen und trans Menschen, aber auch marginalisierte Männer anders durch die Welt bewegen. Es ist unglaublich erschöpfend, sich ständig dem Risiko auszusetzen, sexualisierte Gewalt zu erfahren. So versucht man oft unbewusst, sich von männlich dominierten Orten fernzuhalten. Davon profitieren Männer. Schlussendlich sind sie oft dort unter sich, wo sich Macht ansammelt.
Der andere Aspekt ist der, dass Männer wirklich für sehr durchschnittliches Verhalten Lob kassieren. Wie häufig mir gesagt wird: “Ich vergewaltige ja niemanden, was soll ich sonst noch tun?” Als müssten wir uns dafür bedanken. Aber beim sexistischen Spruch vom Kollegen in der Mittagspause sagst du dann nichts.
Männer verstecken sich dahinter, dass sie keine Frauen schlagen oder vergewaltigen. Und sehen sich dann als einen der “Guten”. Aber einer der “Guten” bist du erst, wenn du dich gegen die Rape Culture auflehnst, wenn du deine Kumpel zur Verantwortung ziehst.
MOMENT: Was erwartest du von Männern?
Lavoyer: Sehr, sehr viel mehr. Sie müssen es auch zu ihrem Thema machen. Du bist etwa der erste männliche Journalist, der mit mir über mein Buch sprechen will.
Männer müssen gegen andere Männer aufstehen. Das ist eine sehr unangenehme Rolle, dann ist man nämlich oft ein Spaßverderber. Wer beim Feierabendbier einen frauenfeindlichen “Witz” anprangert, riskiert beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr eingeladen zu werden. Aber wenn man schweigt, bestätigt man die Aussage und es wird sich nichts ändern.
Die Feministin Ingrid Strobl schrieb bereits in den 1990er-Jahren: “Frauen brauchen Männer, die bereit sind, zum Feind des Manns zu werden.” Das klingt vielleicht heftig. Aber es geht nicht nur darum, ein Verbündeter von Frauen zu sein. Du musst auch gegen deine Kumpels aufstehen. Du bist nicht neutral, wenn du schweigst. Denn Schweigen bedeutet Zustimmung.
Eigentlich wissen wir, was zu tun ist. Es ist alles in der Istanbul Konvention festgehalten.
MOMENT: Aktuell laufen die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Was bräuchte es, um grundsätzliche Probleme zu lösen?
Lavoyer: Es gibt sehr viel, was wir als Individuen machen können. Aber sexualisierte Gewalt ist ein strukturelles, kulturelles und gesellschaftliches Problem. Es braucht also auch strukturelle, politische Lösungen.
Es fehlt bei der Intervention. Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren, müssen opfergerechte Unterstützung erhalten. Beispielsweise fehlt es in Österreich an Gewaltambulanzen. Sie müssen ermutigt werden, Anzeige zu erstatten. Auch in der Prävention fehlt es an allen Ecken und Enden. Aber eigentlich wissen wir, was zu tun ist. Es ist alles in der Istanbul Konvention festgehalten. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Die geforderten Maßnahmen sind alle längst festgehalten, aber so lange das Thema nicht als vordringliches gesellschaftliches Problem erkannt wird, gibt es dafür kaum Geld.
MOMENT: Welche Mythen um sexualisierte Gewalt ärgern dich am meisten?
Lavoyer: Frauen, die von sexualisierten Gewalterfahren erzählen, nicht zu glauben, ist nicht nur falsch, es ist zutiefst frauenfeindlich. Wir müssen Betroffenen glauben. Nein, Frauen sind nicht zu empfindlich. Und nein, der Mann wollte nicht ein Kompliment machen, er wollte demütigen und belästigen.
Ich mache viele Schulungen in dem Bereich. Oft wird gewünscht, dass ich den Teilnehmenden erkläre, was der Unterschied zwischen einem Flirt und sexueller Belästigung ist. Das mache ich nicht. Denn indem man Männer für so dumm hinstellt, dass sie nicht mal den Unterschied zwischen Flirt und Gewalt kennen, entlastet man sie gleichzeitig: als wäre die Belästigung nur ein Missverständnis. Dabei weiß man, dass gewaltausübende Männer sehr wohl mit Absicht und aus Feindlichkeit belästigen.