print print
favorites-circle favorites-circle
favorites-circle-full favorites-circle-full
Arbeitswelt
Gesundheit
Ungleichheit

(Noch) nicht arbeitsunfähig – Gesetzesänderung bringt Menschen mit Behinderung mehr Zeit

(Noch) nicht arbeitsunfähig – Gesetzesänderung bringt Menschen mit Behinderung mehr Zeit
Eine Gesetzesänderung verschafft Menschen mit Behinderung mehr Zeit am Arbeitsmarkt. Doch einiges bleibt ungeklärt. Foto: Marcus Aurelius/Pexels
In Österreich gilt die Ausbildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren. Aber was kommt danach? Für manche Menschen mit Behinderung hieß es bis vor kurzem: Sofort ab in die Arbeitsunfähigkeit. Seit Anfang des Jahres ist das nicht mehr möglich. Die neue Regelung hat gute Seiten, es bleiben aber auch einige Fragen offen.

Mehr Zeit und Pensionsvorsorge – das gewinnen junge Menschen mit Behinderung durch die Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Seit dem 1. Jänner dieses Jahres können Menschen unter 25 Jahren nicht mehr dazu gezwungen werden, eine Untersuchung zu ihrer „Arbeitsfähigkeit“ zu machen. Bis dahin war das ab einem Alter von 18 Jahren möglich.

Was ist Arbeitsunfähigkeit?

Hat das Arbeitsmarktservice (AMS) Zweifel an der Arbeitsfähigkeit einer Person, kann es eine ärztliche Untersuchung anordnen. Die auch kritisiert werden, dass sie nicht fair durchgeführt werden.

Es wird untersucht, welche Arbeitsleistungen die Personen im Vergleich zu jemandem mit einer ähnlichen Ausbildung ohne Behinderung oder Erkrankung erbringen können. Sind es weniger als 50 Prozent, gelten sie als arbeitsunfähig. Und das hat Konsequenzen: Als arbeitsunfähig eingestufte Menschen dürfen nicht mehr am allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten und können nicht sozialversichert werden.

Gesetzesänderung bringt Zeit

Seit Anfang des Jahres kann eine Untersuchung zur Arbeitsfähigkeit einer Person erst ab einem Alter von 25 Jahren angeordnet werden. “Das ist ein ganz wichtiger und wesentlicher Schritt, gerade um Jugendliche nicht gleich in die Bahnen zu lenken, wo sie eigentlich kaum mehr rauskommen können”, sagt Christina Schneyder, Geschäftsführerin vom Dachverband berufliche Inklusion Austria (dabei). 

Aufgrund der Gesetzesnovelle haben junge Menschen nun länger Zeit, um herauszufinden, welche Arbeit zu ihnen passt und “das ist ganz, ganz wesentlich, um ihre Talente zu entdecken”, so Schneyder. Im Idealfall finden die Menschen dann eine für sie passende Arbeit am allgemeinen Arbeitsmarkt.

Vieles bleibt ungeklärt

Die neue Gesetzeslage kläre aber nichts, kritisiert Wolfmayr. “Im österreichischen Behindertenrecht ist es so, dass Menschen mit Behinderungen nur dann ein Leben lang halbwegs abgesichert sind, wenn ihre Erwerbsunfähigkeit bis 21 festgestellt wird”, sagt er. “Das wurde bei der Gesetzesänderung nicht berücksichtigt.“

Wird nämlich die Arbeitsunfähigkeit bis zum Alter von 21 Jahren – oder bei einer Berufsausbildung bis spätestens 25 – nicht bescheinigt, bekommen die Personen keine Familienbeihilfe mehr. Wenn mit der neuen Novelle die Arbeitsunfähigkeit nun erst mit 25 statt schon mit 18 Jahren festgestellt werde, sei nicht klar, welche Konsequenzen das für sie und ihre finanzielle Situation habe, gibt der Experte zu bedenken.

Dem widerspricht die Pressestelle der Familienministerin Susanne Raab auf Anfrage von MOMENT.at. Der Zeitpunkt, an dem die Arbeitsunfähigkeit eintrete, sei für den Bezug der Familienbeihilfe ausschlaggebend, heißt es. “Und nicht der Zeitpunkt der ärztlichen Begutachtung, zu dem festgestellt wird, dass eine dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt.”

Grundsätzlich müssen Eltern in Österreich aber zeitlich unbegrenzt für ihre Kinder sorgen, wenn es notwendig ist. Können die Eltern das nicht, springe wie bei allen anderen Kindern der Staat ein, erklärt Wolfmayr.

Keine AMS-Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit

Arbeitsunfähige Menschen können die Leistungen des AMS nicht in Anspruch nehmen und erhalten zum Beispiel auch kein Arbeitslosengeld. Was dann? Sie können eine Pension beantragen – vorausgesetzt sie haben davor einen bestimmten Mindestzeitraum gearbeitet und in den Sozialversicherungstopf eingezahlt.

Manche Menschen sind aber von Geburt an arbeitsunfähig. Und das ist jene Arbeitsunfähigkeit, “die eigentlich die größten Auswirkungen hat“, sagt Franz Wolfmayr, ehemaliger Präsident vom Europäischen Dachverband von Sozialen Dienstleistungsorganisationen für Menschen mit Behinderungen (EASPD) und nun Berater beim Zentrum für Sozialwirtschaft

Denn die Personen bekommen keine Pension. In vielen Fällen bleibt ihnen keine Alternative zu Einrichtungen, die häufig “Werkstätten“ genannt werden. Diese werden aber immer wieder für schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Entlohnung kritisiert.

Arbeiten auf “eigenes Risiko”

Manche arbeiten trotzdem am allgemeinen Arbeitsmarkt, erzählt Wolfmayr. Auf eigenes Risiko. Sie hoffen, dass sie eine Pension beantragen können, wenn sie den erforderlichen Mindestzeitraum in die Sozialversicherung eingezahlt haben. “Das wird nur dann zum Problem, wenn ihnen etwas passiert in dieser Zeit“, sagt Wolfmayr. „Wenn sie zum Beispiel einen Arbeitsunfall hätten und dann stellt sich heraus, sie sind ja eigentlich nicht sozialversicherbar.“ Hier gebe es einen großen rechtlichen Graubereich, in dem sich fast niemand auskenne. Er findet, das muss klar geregelt werden. Denn: “Diese Unsicherheit ist die größte Barriere, dass Menschen mit Behinderung arbeiten können.“

Schlechte Datenlage in Österreich

Genaue Zahlen, wie viele Menschen von der Gesetzesänderung betroffen sind, gibt es noch nicht. Grundsätzlich ist die Datenlage zu Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt eher schlecht. Das macht eine Einschätzung schwierig.

Das Arbeitsministerium gibt in seiner wirkungsorientierten Folgenabschätzung der Gesetzesänderung rund 100 betroffene junge Menschen pro Jahr an. Wolfmayr vermutet, dass die Zahl deutlich höher sein wird. Er geht von etwa 2.000 Personen österreichweit aus. Man dürfe nicht vergessen, auch die Menschen unter 25 Jahren mitzuzählen, die derzeit schon in Werkstätten arbeiten oder zu Hause sind. 

In Österreich arbeiten insgesamt etwa 27.000 Menschen in Werkstätten, schätzt der Monitoringausschuss (2020). Wolfmayr geht auch hier davon aus, dass die Zahl zu niedrig angesetzt ist. Er vermutet, dass mindestens viermal so viele als arbeitsunfähig eingestufte Menschen in Österreich leben, “weil ja viele ausgeschieden sind aus dem System.” Dadurch würden sie auch in keinen Statistiken mehr aufscheinen.

Und was jetzt?

Die Gesetzesnovelle habe ein Umdenken bewirkt, meint Brigitte Gottschall, Geschäftsführerin von Jugend am Werk. Organisationen, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten, müssen teilweise noch niederschwelligere Qualifizierungsmaßnahmen anbieten, glaubt sie. „Weil die Jugendlichen bisher als arbeitsunfähig eingestuft wurden und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden sind.” Und für diese Einstufung habe es ja auch eine Bewertungsgrundlage gegeben.

Ein Job für die Menschen statt Menschen für einen Job

Es gibt verschiedene Ansätze, wie Angebote für junge Menschen mit Behinderungen aussehen könnten. So kann man etwa Menschen bei der Berufsausbildung unterstützen. Eine andere Möglichkeit ist “Training on the Job”, wo ein Arbeitsplatz passend für die Fähigkeiten einer Person geschaffen wird. 

Unternehmen haben immer noch Vorbehalte

Insgesamt sei es wichtig, dabei auch die Arbeitgeber:innen mitzunehmen, ist Gottschall überzeugt. “Ich glaube, was wir jetzt tun können, ist, dass wir ganz viel Aufklärung machen, ganz viele Ängste nehmen.” Viele Unternehmen hätten immer noch Vorbehalte, Menschen mit Behinderung anzustellen und man müsse wirklich aufklären und sagen: “Das hat auch einen Mehrwert.”

Mehr zum Thema:

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Kommentare 0 Kommentare
    Kommentar hinzufügen

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Beitrag!