Behindernde Bürokratie: Formular-Schwall für Schüler:innen mit persönlicher Assistenz

Eine Schulklasse fährt zu einem Talentetag des Behindertensports – und ausgerechnet das Kind mit Behinderung darf als Einziges nicht mit? Fast wäre es so gekommen für die 14-jährige Lina, Schülerin an einem Wiener Gymnasium. Denn seit Ende 2023 gelten neue Regeln für Persönliche Assistenzen in der Schule. Eigentlich sind sie eine Verbesserung, doch die Wiener Bildungsdirektion ist bei ihrer Umsetzung mit der Bürokratie ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen.
Lina, die in Wirklichkeit anders heißt, sitzt im Rollstuhl und ist im Schulalltag auf eine persönliche Assistenz angewiesen. Die muss einmal jährlich für das nächste Schuljahr beantragt und genehmigt werden. Im Winter 2024 aber, Lina war in der vierten Klasse Gymnasium, bekam Linas Mutter eine Mail von der Assistenzgenossenschaft WAG, die Linas Assistent:innen organisiert.
Die Bildungsdirektion, so heißt es in der Mail der WAG an die Eltern, habe „darauf hingewiesen, dass bei allen Schulveranstaltungen“ wie Ausflügen, Exkursionen und Tagen der Offenen Tür die persönliche Assistenz gesondert beantragt werden müsse – und zwar selbst dann, „wenn es im Rahmen des Stundenplans bzw. Schulzeit fällt.“ Sollten die abgerechneten Stunden „nicht mit den im Klassenbuch vermerkten Anwesenheitszeiten übereinstimmen“, schreibt die WAG weiter, „müssen diese Stunden aus Eigenmitteln übernommen werden und werden Ihnen am Ende des Monats in Rechnung gestellt.“
Persönliche Assistenz: Für jeden Schulausflug ein dreiseitiges Formular
„Ich habe bei der WAG angerufen“, sagt die Mutter, „aber da hieß es nur: Ja, die Bildungsdirektion will das jetzt.“ Die Klassenvorständin müsse jetzt also für jeden Schulausflug mit Lina einen eigenen, drei Seiten langen Antrag stellen. „Sie muss das an die Bildungsdirektion schicken und zusätzlich an die WAG. Die Assistent:innen müssen ihre Zeiten aufschreiben, ich muss das bestätigen. Das geht über fünf Ecken und muss überall gleich sein“, sagt die Mutter – „und es ist idiotisch, weil die Assistenz für diese Zeiten ja schon bewilligt ist.“
Das dreiseitige Formular liegt MOMENT.at vor. Neben den Daten der Schülerin, der Erziehungsberechtigten und der Schule sowie Informationen zur geplanten Schulveranstaltung werden darin unter anderem auch der „Pflegegeldbescheid oder fachärztlicher bzw. klinisch-psychologischer Befund“, eine „Pädagogische Begründung (Schule)“ und eine „Angabe auf welche Weise die Unterstützung bisher erfolgte“ abgefragt. Und dieses Formular sollen die Lehrenden nun also für jeden einzelnen Schulausflug ausfüllen.
Die Bildungsdirektion lehnt ab – oder nicht?
„Es klingt vielleicht lächerlich, sich wegen eines Formulars zu beschweren – aber es ist halt wieder eine Aufgabe mehr, die dazukommt“, sagt Andrea Nowak, Linas Klassenvorständin. Auch ihren Namen haben wir geändert, damit Lina nicht erkennbar ist. „Ich mache es natürlich trotzdem“, sagt Nowak. „Aber andere Kolleg:innen machen die extra Arbeit vielleicht nicht, und dann fährt die Klasse nicht weg. Das ist total unfair, das kann es einfach nicht sein.“ Sie habe bei der Bildungsdirektion angerufen, sei aber aus dem Gespräch nicht schlau geworden: „Es hieß einfach, das ist jetzt halt so.“
Als also die Ausflüge für die letzte Schulwoche feststehen – unter anderem jener zum Talent Day des Österreichischen Paralympischen Committees, der körperbehinderten Kindern und Jugendlichen den Behindertensport nahebringen soll –, füllt Andrea Nowak die Anträge aus.
Und bekommt daraufhin eine Mail von der Bildungsdirektion: Unterstützungsanträge für Schulveranstaltungen seien „möglichst früh, d.h. Im Planungsstadium“ zu stellen, heißt es darin; „im Idealfall am Beginn des jeweiligen Schuljahres, längstens jedoch mit Beginn des jeweiligen Schulsemesters“. Ausgenommen seien „seltene und spontan geplante“ Veranstaltungen. Jeder „NACHTRÄGLICH oder VERSPÄTET“ eingebrachte Antrag sei budgetär „problematisch“ und könne „im schlimmsten Fall aufgrund einer so entstandenen finanziellen NICHTBEDECKUNG u.U nicht mehr genehmigt werden“.
„Sie will einfach ganz normal dabei sein in der Klasse“
Nowak und Linas Mutter lesen diese Mail als Ablehnung ihrer Anträge. „Lina war total traurig“, sagt ihre Mutter. „Sie hat gesagt, warum darf ich nicht mit? Kannst du da nichts machen? Sie steckt jetzt in der Pubertät und will keine Extrawürstel haben, sondern einfach ganz normal mitmachen und dabei sein in der Klasse.“ Selbst bei Ausflügen zum Schwimmen oder zum Eislaufen: „Wenn sie dort im Rollstuhl sitzt und zuschaut, ist das für sie weniger ein Problem, als wenn man sagt, du darfst nicht mit, weil du kannst das sowieso nicht.“
Auch Andrea Nowak ärgert sich: „Ich gehe mit der ganzen Klasse zu den Paralympics, und das eine Mädchen mit Behinderung darf als Einzige nicht mitgehen? Das kann doch nicht sein.“
Die Genehmigung ist da, der Ärger bleibt
Einer von Linas Lehrern schreibt daraufhin eine empörte Mail an die Bildungsdirektion. Die Antwort: es gebe noch gar keine Entscheidung über die Anträge, man habe nur auf „grundsätzliche Zusammenhänge und Probleme“ hinweisen wollen.
Letztlich werden die Anträge genehmigt, Lina kann mit dem Rest der Klasse an den Ausflügen teilnehmen.
Der Ärger aber bleibt: Warum ist diese Bürokratie überhaupt nötig? „Ich sehe ja ein, dass man einen Antrag ausfüllen muss, wenn der Ausflug einen ganzen Tag dauert oder wenn man für eine Woche wegfährt“, sagt Linas Mutter. „Aber nicht für Ausflüge während der Schulzeit.“ So sieht es auch Linas Klassenvorständin Andrea Nowak.
„Dann müssen wir das Verfahren verschlanken“
Auf Anfrage bei der Bildungsdirektion Wien meldet sich Rupert Corazza, der Leiter des Fachstabs Inklusion. Er sagt, hinter dem ganzen Ärger verstecke sich eigentlich eine gute Neuigkeit: Erst seit dem letzten Schuljahr sei nämlich die persönliche Assistenz an Bundesschulen umfassend geregelt. Davor sei die rechtliche Situation unklar gewesen, die Finanzierung oft ungewiss. Jetzt gebe es durch einen Erlass des Bildungsministeriums „ein formalisiertes Verfahren, das in fast allen Fällen funktionieren müsste“. Die Finanzierung sei auch nicht gedeckelt.
Dass Lehrende nun für jeden einzelnen Ausflug ein dreiseitiges Formular ausfüllen sollen, das ergibt auch für Corazza keinen Sinn. „Das werde ich mir anschauen“, sagt er. Wegen der Neuregelung durch das Ministerium habe die Bildungsdirektion das Verfahren neu aufgesetzt, „es kann schon sein, dass die Formulare dann im ersten Schwung zu kompliziert geworden sind. Dann müssen wir das Verfahren ein bisschen verschlanken.“
Verbesserung versprochen
Wenn kein zeitlicher Mehraufwand für die persönlichen Assistent:innen entstehe, sondern nur der Dienstort ein anderer sei, sagt Corazza, „dann sollte das nicht kompliziert sein. Das ist ja sinnlos, da einen Mehraufwand zu treiben.“
Auch die per Mail ergangene Aufforderung, Ausflüge schon am Anfang des Schuljahres zu melden, bezeichnet Corazza als „völlig unrealistisch“. Bei teuren Veranstaltungen wie Projektwochen, bei denen Quartiere bezahlt werden müssten, sei ein frühzeitiger Antrag wichtig. „Aber einzelne Lehrausgänge, die zeitlich nicht oder vielleicht nur eine Stunde länger dauern als der Unterricht – das muss unkompliziert möglich sein.“ Er werde die Formulare überprüfen.
Vielleicht kann Lina also im jetzt startenden Schuljahr wieder ohne bürokratischen Aufwand und Unsicherheit zu Ausflügen mitfahren.
Diese Recherche erscheint zeitgleich auch im inklusiven Online-Magazin andererseits.