Zwei-Klassen-Medizin: Diese 5 Fakten solltest du kennen
In ärmeren Vierteln sterben Menschen früher. Es gibt immer weniger Kassenärzt:innen, dafür mehr Wahlärzt:innen. Die muss man sich – wie Zusatzversicherungen – aber erst einmal leisten können. Wer wenig Einkommen hat, muss mehr davon für seine Gesundheit zahlen als die Reichsten – und bekommt weniger. Die Zwei-Klassen-Medizin ist Realität.
1. Je ärmer, desto kränker
Die Diagnose ist erschreckend: Jeder siebte Mensch mit einem Kleinst-Einkommen bewertet den eigenen Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht. Dreimal so viele Menschen im unteren Einkommensfünftel geben an, gesundheitlich schlecht beieinander zu sein, wie im höchsten Einkommensfünftel. Auf der anderen Seite fühlen sich mehr als 80 Prozent der Bestverdienenden gesundheitlich gut oder sehr gut. Unter den Geringverdienenden sind es nur 62 Prozent. Je geringer also das Einkommen, desto schlechter geht es den Menschen gesundheitlich. Ein Grund: Menschen aus ärmeren Haushalten haben öfter Jobs, die körperlich anstrengend und psychisch belastend sind. Das kann dazu führen, sich häufiger krank melden zu müssen. Doch es ist nicht nur das.
2. Wenig Einkommen heißt: früher sterben
Auch wie alt die Menschen werden, steht und fällt mit der Höhe der Einkommen. In Wien haben Menschen, die in „ärmeren“ Stadtbezirken wohnen, eine deutlich geringere Lebenserwartung. Während Bewohner:innen der Inneren Stadt im Schnitt fast 83 Jahre alt werden, liegt das durchschnittliche Sterbealter der Menschen in Rudolfsheim-Fünfhaus sieben Jahre darunter. Im Bezirk mit den geringsten Einkommen – im Schnitt unter 1.400 Euro netto – sterben die Bewohner:innen im Schnitt mit 75,6 Jahren. Das zeigen die Daten der Stadt Wien aus dem Jahr 2019. In den vier Bezirken mit den höchsten Einkommen ist auch das Sterbealter am höchsten.
3. Weniger Kassenärzt:innen, mehr (teure) Wahlärzt:innen
All das hängt auch damit zusammen, wie gut die ärztliche Versorgung ist – und wer sich die leisten kann. In Österreich gibt es immer mehr Wahlärzt:innen und immer weniger Kassenmediziner:innen. Auf 10.000 Einwohner:innen kamen vor acht Jahren noch 10 Kassenärzt:innen und acht Wahlärzt:innen. Heute sind es nur noch 9 Kassenärzt:innen – das Verhältnis hat sich mehr als umgekehrt. Folge: Immer längere Wartezeiten für notwendige Behandlungen. Kassenärzt:innen haben immer weniger Zeit für ihre Patient:innen. „Die ärmere Bevölkerung leidet natürlich als Erstes darunter, wenn Ärzt:innen nicht mehr alle Patient:innen aufnehmen und gleich behandeln können“, sagte Hausarzt Kurt Roitner aus Oberösterreich im Interview mit MOMENT.at.
Dagegen kommen auf 10.000 Einwohner:innen inzwischen 12 Wahlärzt:innen. Was erstmal gut klingt für gesundheitliche Versorgung, hat mehrere Haken: Wahlärzt:innen arbeiten weniger und müssen keine Not- oder Nachtdienste leisten. Sie können Patient:innen ablehnen. Und sie rechnen per Honorar ab. Patient:innen bekommen davon nur 80 Prozent dessen zurück, was die gleiche Behandlung bei Kassenärzt:innen kostet.
4. Zusatzversicherungen muss man sich leisten können
Einen Teil der Kosten müssen Patient:innen also selbst bezahlen – oder eine Zusatzversicherung abschließen. Das passiert immer öfter: Insgesamt haben schon rund 40 Prozent der Patient:innen eine zusätzliche Versicherung abgeschlossen. Oft ist das auch notgedrungen. In manchen Fachbereichen wie Frauenheilkunde oder Psychiatrie sind Patient:innen praktisch gezwungen, private Wahlärzt:innen aufzusuchen – weil es zu wenig Kassenärzt:innen gibt. Im bestverdienenden Zehntel der Bevölkerung haben fast zwei Drittel aller Menschen eine zusätzliche Versicherung abgeschlossen, die solche Kosten abdeckt. Von den 10 Prozent der Menschen mit den geringsten Einkommen, hat nicht einmal jede:r Fünfte eine Zusatzversicherung. Wer kaum finanziellen Spielraum hat, kann sich auch keine weitere Krankenversicherung leisten – und muss eben warten.
5. Ärmere zahlen mehr – und bekommen weniger
Dabei müssen die Haushalte mit geringen Einkommen schon heute viel mehr ihres verfügbaren Geldes in medizinische Versorgung stecken. Das untere Fünftel gibt mehr als 12 Prozent seines Einkommens für die medizinische Versorgung aus. Weit mehr als die Hälfte davon müssen sie für ärztliche Leistungen ausgeben. Die Menschen des einkommensreichsten Fünftels geben nicht einmal 5 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für gesundheitliche Leistungen aus. Dennoch sind sie – siehe Zusatzversicherungen, Anzahl der Wahlärzt:innen, höheres Sterbealter und guter Gesundheitszustand – offensichtlich deutlich besser versorgt.
Was gegen die Zwei-Klassen-Medizin helfen kann
Passiert hier nichts, könnte dieses Gefälle zunehmen: Top-Versorgung für die, die es sich leisten können. Nur noch das Nötigste für Kassenpatient:innen. Immer mehr Wahlärzt:innen heißt: Ärzt:innen in Spitälern und Kassenpraxen “werden immer weniger und müssen sich umso mehr abstrampeln”, sagt Hausarzt Kurt Roitner. Mögliche Folge: Immer weniger Mediziner:innen gehen in die Bereiche, die die primäre Gesundheitsversorgung für alle sichert – sondern machen gleich eine private Praxis auf. Roitner plädiert etwa dafür, es Wahlärzt:innen zu ermöglichen und schmackhaft zu machen, auch in Kassenpraxen mitzuarbeiten.
Das Momentum Institut empfiehlt, das Kassensystem und Krankenhäuser sowie Primärversorgungszentren finanziell nicht auszudünnen, “um keine Mehr-Klassen-Medizin zu befeuern”. Was helfen könnte, um die Gesundheit der Menschen mit geringeren Einkommen zu stärken: eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Denn Studien belegen, dass längere Arbeitszeiten schlecht für die Gesundheit sind.