Katja Diehl: “Es ist keine Freiheit, wenn man auf Führerschein und Auto angewiesen ist”

MOMENT.at: Geht es nach Altbundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) bist du hier in Österreich zu Besuch im “Autoland schlechthin”. Ist es etwas Positives, in einem Autoland zu leben?
Katja Diehl: Für mich spricht aus dem Zitat sehr viel Identifikation und Unkenntnis über Lebensentwürfe. Es ist unsympathisch – vor allem gegenüber jenen, die kein Auto haben wollen oder mit dem Auto nichts anfangen können, weil sie zum Beispiel behindert sind oder zu wenig Geld haben. Wenn ich auf Deutschland blicke, finde ich es sehr traurig, dass wir vom Land der Dichter und Denker zu Autobauern geworden sind. Ich würde gerne dafür stehen, dass Österreich und Deutschland die Länder der Mitmenschlichkeit sind.
MOMENT.at: Wird das Auto genutzt, weil es so attraktiv ist oder weil andere Verkehrsmittel so unattraktiv sind?
Diehl: Für mich ist das Auto vor allen Dingen kein Verkehrsmittel. Es ist Statussymbol und Schutzraum. Denn zum einen hast du dort deine eigene Kapsel und musst dir den Raum nicht mit anderen teilen. Dabei werden die Alternativen nie so gut sein wie das Auto. Zum anderen ist das Auto auch “Ich mache einen Eindruck, bevor ich aussteige”. Damit Menschen sich von diesem materiellen Denken lösen und nicht Autos kaufen, um Leute zu beeindrucken, muss sich gesellschaftlich etwas verändern. Wie heißt es bei Fight Club so schön: “Wir kaufen vom Geld, das wir nicht haben, Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir hassen.” Ich denke, gerade beim Auto trifft das sehr gut zu.
MOMENT.at: Wieso halten Politiker:innen so an dem Konzept Auto fest?
Diehl: Ich glaube, dass viele von ihnen denken: Ich fahre gerne Auto, dann trifft das bestimmt auch auf alle anderen zu. Sie sind einfach in anderen Sphären unterwegs und weg von der Lebensrealität. Jede:r Politiker:in sollte sich vor Jobantritt eine Woche mit Rollstuhl, Kinderwagen und Fahrrad durch die öffentlichen Räume bewegen und ein bisschen mehr hinhören, was die Menschen wirklich wollen.
MOMENT.at: Wie lange können wir uns das Auto als Gesellschaft noch leisten?
Diehl: Gar nicht. Eigentlich müssen wir 2025 aus dem Verbrenner raus, weil wir sonst einen Bestand aufbauen, der noch lange nachwirkt. Dafür braucht es aber eine Politik, die klar sagt, wenn ihr euch dem weiterhin verweigert, werdet ihr draufgehen.
Der Fehler im System fängt für mich schon damit an, dass das Auto viel zu billig ist für die Zerstörung, die es anrichtet. Eine Studie aus Schweden hat gezeigt, dass ein Opel Corsa die Gesellschaft rund 5.500 Euro im Jahr kostet. Wenn die realen Kosten beim Autokauf miteinfließen würden, könnten sich nur noch Gutverdienende ein Auto leisten – und das wollen wir natürlich nicht. Stattdessen braucht es Alternativen, die billiger sind.
MOMENT.at: Pendlerpauschale, Diesel- und Dienstwagenprivileg: Die klimaschädlichen Subventionen und Privilegien, die das Auto über die Jahre erhalten hat, werden heute mittlerweile als Recht gedeutet. Wie kommen wir da wieder raus?
Diehl: Was uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet ist, dass wir uns eine alternative Zukunft vorstellen können. Wir haben diesen Muskel nur ewig lange nicht mehr trainiert – bei der Mobilität überhaupt nicht mehr. Bei etwas Neuem wird immer automatisch gefragt “Was kostet das?”. Es wird aber nie gefragt, “Was ist es uns denn wert?”. Da hinterfragen wir nicht, warum wir in Deutschland 4 Milliarden Euro an Steuergeldern für ein Dienstwagenprivileg ausgeben, während ein flächendeckendes Verkehrs-On-Demand-System pro Jahr auch nur 3,8 Milliarden Euro kosten würde. Etwas Neues ist immer problematisch.
“Wir müssen wieder hin zu einer Solidargemeinschaft, die möchte, dass es den Schwächsten gut geht.”
MOMENT.at: Sowohl beim Klimaschutz als auch in der Verkehrswende kommt immer wieder das Argument, dass Maßnahmen nicht diktiert werden dürfen. Geht eine Verkehrswende ganz ohne Verbote und nur mit Anreizen?
Diehl: Nur mit Anreizen wird es nie funktionieren. Ich lebe in Hamburg, in einem der am dichtesten besiedelten Stadtteile. Hier fährt die U-Bahn und Busse, es gibt Leihräder, Taxis und On-Demand-Rufservice. Trotzdem ist alles zugeparkt. Ich glaube wirklich, dass wir Menschen immer nach relativ klaren Regeln hungern. In Diskussionen wird das dann immer als Verbot geframed. Wir müssen wieder hin zu einer Solidargemeinschaft, die möchte, dass es den Schwächsten gut geht. Die Gesellschaft entwickelt sich ja weiter und das Auto kann auch immer noch eine Rolle spielen, aber doch nicht mehr auf diesem Podest.
MOMENT.at: Konservative, Neoliberale und Rechte schwören auf Technologieoffenheit. Braucht es die für eine Verkehrswende überhaupt noch?
Diehl: Technik muss uns dienen. Elektrische Energie ist State-of-the-Art und wenn ich mir zum Beispiel die Diskussion um Wasserstoff und E-Fuels ansehe, dann ist sogar mir klar, dass umwandeln, transportieren, umwandeln das Fünffache an Energie braucht. Wir brauchen auch keine Hybridautos mehr. Also irgendwann muss die Technologieoffenheit auch in eine Entscheidungsfreude kippen.
MOMENT.at: Sind Gesellschaft, Industrie und Unternehmen in der Verkehrswende schon weiter als die Politik?
Diehl: Ich glaube, die Politik ist nicht unbedingt weniger weit, sondern sie hat unglaublich Angst vor Umfragen, vor Machtverlust.
Der amerikanische Soziologe Richard Sennett meinte dazu in einem Vortrag: Es ist schlimm, wie die Politik weltweit irgendwelchen Umfragen hinterherläuft und damit das Populäre tut, aber nicht das Richtige. Denn ihre eigentliche Aufgabe wäre, das Richtige populär zu machen. Ich verstehe schon, in der Politik muss man immer auch Kompromisse machen, aber innerlich muss man doch einen Kurs haben.
MOMENT.at: Viele Leute sind auf das Auto angewiesen – wegen Krankheit, Alter, aber auch wegen der Sorge um die eigene Sicherheit, vor allem Frauen, Transpersonen oder BIPoC. Wie nimmt man diese Menschen bei der Verkehrswende mit?
Diehl: Für mich ist das, was ich tue, wirklich feministisch. Unserer Mobilität spiegelt letztlich nur die gesellschaftlichen Probleme wider. Viele haben Angst vor der Veränderung, weil sie auf das Auto angewiesen sind. Die Gruppen, die sich ins Auto setzen können, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen, denken dabei aber nicht an die, die es nicht können – die bessere Bahnverbindungen und sichere Radwege brauchen.
Eigentlich sollte das jede:r wollen – aus Egoismus. Denn es kann ganz viel passieren, dass du von jetzt auf gleich nicht mehr Auto fahren kannst. Ich habe das Gefühl, dass Menschen nicht darüber nachdenken, dass sie, indem sie das Auto verteidigen, auch das System verteidigen, das sie drangsaliert.
“Ich hätte gerne, dass des Deutschen liebstes Kind nicht mehr das Auto ist, sondern das Kind.”
MOMENT.at: Apropos, viel passieren. Im Jahr 2024 sind auf Österreichs Straßen 349 Menschen gestorben. Vor allem für Kinder sind die immer größer werdenden SUV´s eine enorme Gefahr. Gleichzeitig steht in der österreichischen Bundesverfassung: “Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt”. Müsste das nicht bedeuten, dass Tempolimits, die Größe der Autos oder auch die Antriebsart viel stärker regulieren und vorgeben werden müssten?
Diehl: Wenn es um das Auto geht, haben wir diese Solidargemeinschaft und eine unglaubliche Verdrängungsgabe. Aber wenn es so etwas bei der Bahn geben würde, oder Flugzeuge ständig abstürzen, dann würden wir sofort was machen. Ich hätte gerne, dass des Deutschen liebstes Kind nicht mehr das Auto ist, sondern das Kind.
MOMENT.at: In Österreich leben rund 9,2 Millionen Menschen. Davon wollen, können oder dürfen knapp 3 Millionen Menschen nicht mit dem Auto fahren. Weitere 1,3 Millionen Menschen lenken nur selten bis kaum ein Auto. Trotzdem prägt es den öffentlichen Raum und alles ist darauf ausgerichtet. Warum gibt es keinen größeren Widerstand in der Gesellschaft gegen so eine Politik?
Diehl: Wenn man alle zusammenzählt, ist das eine große Gruppe. Aber obwohl sie eigentlich alle ähnliche Bedürfnisse haben, sind sie eben keine Community. Da sind die ohne Führerschein, dort sind die Kinder. Und statt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu blicken, zelebrieren wir manchmal zu sehr diese Spaltung – auch in den progressiven Lagern.
Autofahrer können sich hingegen hinter dem Begriff Auto vereinen – von Grün, über Rot bis hin zu Schwarz. Und ich denke, dass die Autolobby hier – im negativen Sinne – einen guten Job gemacht hat. Denn wir sind von klein auf von Autos umgeben und jeder, der das Wort Mobilität hört, denkt an Auto. Vielleicht ist uns Österreicher:innen und Deutschen diese Protestkultur nicht so gegeben, aber eigentlich braucht es auch von Links mehr Aktivismus, der laut ist.
Ich will, dass es echte Wahlfreiheit gibt und man auch ohne eigenes Auto gut leben kann.
MOMENT.at: Wie sieht eine Welt aus, bei der du sagst, “Die Verkehrswende ist geschafft?”
Diehl: Es ist ein Ort, an dem alle gut leben können und es klima- und sozialgerecht ist. Es ist grün, ruhig, entschleunigt und es ist demokratisch. Menschen begegnen sich und es gibt wieder starke Nachbarschaften. Eltern können ihre Kinder im Sommer alleine hinausschicken, ohne Angst vor Autos haben zu müssen. Und Menschen können dort alt werden, wo sie ihre Leute haben und werden nicht entwurzelt, sobald sie nicht mehr mit dem Auto fahren können.
Ich will, dass es echte Wahlfreiheit gibt und man auch ohne eigenes Auto gut leben kann. Es ist nämlich keine Freiheit, wenn man in gewissen Regionen auf Führerschein und Auto angewiesen ist – das ist Abhängigkeit und Zwang.
Wenn alle in jeder Lebensphase – von der Großstadt bis hin zum kleinen Dorf – ihren Bedarf an Mobilität decken können, und zwar auch abseits vom eigenen Autobesitz, ist die Verkehrswende geschafft.
MOMENT.at: Ist Österreich auf einem guten Weg dahin?
Diehl: Ich glaube, Österreich ist mit der neuen Regierung in Gefahr, wieder zurückzufallen. Aber Leonore Gewessler wird eine Person sein, die in Erinnerung bleibt – weil sie Dinge verändert hat. Bestimmte Projekte hat sie vorangebracht und bei anderen hat sie klar gesagt: “Macht es Sinn Autobahnen und Tunnel zu bauen? Nein? Dann lassen wir das.” Sie hat in der Zeit, wo ihr die Macht gegeben wurde, was verbessert – zugunsten von allen. Das macht auch die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo. Ihre Pläne, die sie für die nächsten 25 Jahre in das Stadtgesetz geschrieben hat, lassen sich nicht mehr so schnell ändern. Da kann der nächste Nazi, der vielleicht nachkommt, nicht viel dagegen ausrichten. Daran wird man sich erinnern.
Zur Person: Wer ist Katja Diehl?
Katja Diehl kommt aus Hamburg und setzt sich in ihrer Arbeit als Mobilitätsexpertin und -aktivistin für die Verkehrswende ein. Sie ist preisgekrönte Bestsellerautorin, doppelte Preisträgerin des Deutschen Mobilitätspreises, Speakerin, Podcasterin und war unter anderem Beirätin der ehemaligen Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Die Grünen). 2020 zählte Focus sie zu den “100 Frauen des Jahres”.