Mieses Spiel bei KV-Verhandlungen: Chemische Industrie rechnet sich arm, Beschäftigte sollen verzichten
Regenschirmparade vor dem Chemiewerk. 300 Mitarbeiter:innen von Sandoz, Novartis und Veolia traten trotz miesen Wetters im tirolerischen Kundl vergangenen Mittwoch in Warnstreik. Ähnliches Bild einen Tag davor bei Semperit in Wimpassing in Niederösterreich: Dort legten hunderte Mitarbeiter:innen kurzzeitig ihre Arbeit nieder. Auch bei Lenzing in Linz wurde gestreikt. Schon am Montag beteiligten sich 600 Beschäftigte des Wiener Standorts von Boehringer-Ingelheim am Warnstreik. Die Stimmung ist mies, und zwar nicht wegen des Wetters. In 50 Betrieben wurde gestreikt.
Zähe KV-Verhandlungen in Chemischer Industrie
Nach sechs Runden ergebnisloser Verhandlungen steht noch immer kein neuer Kollektivvertrag für die mehr als 51.000 Beschäftigten. Am heutigen 17. Juni wollen beide Seiten weiter verhandeln. Können sie sich erneut nicht einigen, droht Chefverhandler Alfred Artmäuer von der Gewerkschaft PRO-GE mit einem unbefristeten Streik.
Es geht natürlich ums Geld: Die Vertreter:innen der Beschäftigten fordern mehr Lohn und Gehalt in Höhe von 6,33 Prozent. Damit würde lediglich die rollierende Inflation des vergangenen Jahres ausgeglichen – real hätten die Arbeitnehmer:innen keinen Cent mehr in der Tasche. Und: Die Gewerkschaften bieten an, die Lohnerhöhungen für Gutverdiener:innen zu deckeln.
Arbeitgeber:innen schlagen Alarm – natürlich
Und was sagt die Seite der Arbeitgeber:innen? Sie schreit laut Alarm. Von drohender „Deindustrialisierung“ und einer „dramatisch schlechten wirtschaftlichen Situation unserer Branche“ spricht Berthold Stöger, Verhandlungsführer des Fachverbands der chemischen Industrie. Die Beschäftigten sollten „endlich erkennen, was auf dem Spiel steht“. Das geforderte Lohnplus in Höhe der Inflation nennt er „überzogen“. Er bietet 6 Prozent mehr Lohn und Gehalt, sozial gestaffelt.
Arbeitnehmer:innen sollen durchgerechnet nur 4,77 % mehr bekommen.
Das klingt nicht weit weg von den geforderten 6,33 Prozent. Warum also die Aufregung? Weil das Lohnplus bei besser verdienenden Beschäftigten gedeckelt werden soll, bekämen die Arbeitnehmer:innen durchgerechnet lediglich 4,77 Prozent mehr. „Nicht akzeptabel“, sei dieses Angebot, sagt ein Verhandler der Beschäftigten zu MOMENT.at. Dabei wisse die Gewerkschaft um die angespannte Lage der Branche. Und eben deshalb fordere sie, die KV-Löhne lediglich um die Inflation zu erhöhen.
Das Spiel bei Lohnverhandlungen: Industrie malt schwarz
Spielt’s nicht, sagen die Arbeitgeber:innen und begründen das auf bekannt kreative Art: Die Chemie-Abschlüsse der vergangenen zwei Jahre hätten bereits ein Lohnplus von 15,3 Prozent gebracht. Für die Arbeitnehmer:innen wurde seitdem alles teurer. Vor allem bei Energie, Wohnen und Lebensmitteln explodierten die Preise geradezu. Also bei den Ausgaben, um die niemand herumkommt. In den Jahren 2022 und 2023 verloren Österreichs Arbeitnehmer:innen dadurch 6,5 Prozent Kaufkraft – trotz nominell erhöhter Löhne.
Dazu jammern die Chemie-Unternehmen über eingebrochene Umsätze, Verkäufe und Gewinne. Es stimmt, 2023 war kein gutes Jahr für die Branche. Gesamtzahlen der Branche liegen noch nicht vor. Wer sich ein Bild machen will, muss in die Jahresbilanzen und Quartalsberichte der Unternehmen schauen. Die Borealis AG etwa machte 2023 „nur“ 168 Millionen Euro Gewinn nach Steuern. Bei der Semperit-Gruppe waren es 24,9 Millionen Euro. Lenzing machte gar fast 600 Millionen Euro Verlust. Als Teil der Bekleidungsindustrie spürt der Faserhersteller natürlich auch, dass alle weniger Geld ausgeben können.
Was Firmen den Aktionär:innen sagen, klingt ganz anders
Doch die Untergangsstimmung, die die chemische Industrie in den Verhandlungen um angemessene Löhne heraufbeschwören möchte – sie trifft so nicht zu. In ihren aktuellen Quartalsberichten blicken die Chemie-Unternehmen optimistischer in ihre Zukunft als in den schwarzmalerischen Verlautbarungen während der Lohnverhandlungen.
Auch das ist ein beliebter Trick: Geht es darum, die KV-Löhne angemessen zu erhöhen, rechnen sich die Unternehmen arm. Die Zahlen und Worte, die sie gleichzeitig an ihre Aktionär:innen richten, klingen ganz anders.
Dividende so hoch wie Einsparung durch Jobabbau. Eine Umverteilung nach oben.
Semperit freute sich im ersten Quartal dieses Jahres über einen stabilen Umsatz und einen um 9 Prozent höheren Gewinn vor Steuern und Abschreibungen (EBITDA). Man habe sich „sehr solide behauptet“ und sei finanziell „unverändert sehr robust aufgestellt“. Semperit schüttete Ende April 2024 mehr als 10 Millionen Dividenden an ihre Aktionär:innen aus. Das ist ein etwas höherer Betrag, als die Gruppe durch ein „Kostensenkungsprogramm“ eingespart hat.
Kosten senkte Semperit auch dadurch, Mitarbeiter:innen vor die Tür zu setzen. Dort wurde genommen, was nun zu den Dividenden-Empfänger:innen fließt. Das kann man natürlich machen, wirkt aber wie eine Umverteilung nach oben. Übrigens: Dass der Personalstand von Semperit dennoch stieg, lag an der Übernahme des oberösterreichischen Kunststoffunternehmens RICO Group. Der Erwerb ging sich trotz der ach so schlechten Marktlage aus.
Wurden Rekordzgewinne an Mitarbeiter:innen weitergegeben? Leider nein
Was die Arbeitgeber:innen gerne verschweigen in den Lohnverhandlungen: Die Rekordzahlen der Jahre davor. Im Jahr 2022 setzte die Industrie Produkte im Wert von fast 21 Milliarden Euro ab – ein Plus von 14,5 Prozent. 2021 betrugen die Erlöse 18 Milliarden Euro, ein Plus von 20 Prozent. Der Einbruch aus dem Corona-Jahr 2020 wurde mehr als wettgemacht. Borealis etwa fuhr 2022 nach Steuern 2,1 Milliarden Gewinn ein.
Wenn Arbeitgeber:innen-Verhandler Stöger jetzt sagt, „wir können nur verteilen, was vorher in den Betrieben verdient wurde“, sollte er gefragt werden: Haben Sie denn die Rekordgewinne der Jahre davor an die Arbeitnehmer:innen verteilt? Oh, leider nein.
Bei der zuletzt gebeutelten Lenzing schaut es auch wieder besser aus: Im ersten Quartal 2024 stiegen die Umsatzerlöse um 5,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der Gewinn vor Steuern und Abschreibungen stieg auf 71,4 Millionen Euro und damit um 140 Prozent. Nach Steuern schrieb Lenzing ein Minus von nur noch 30 Millionen Euro.
Was dem Unternehmen Kopfzerbrechen bereitet: „Die allgemeine Teuerung und real sinkende Einkommen wirken sich weiterhin negativ auf das Konsumklima aus“, schreibt Lenzing im Quartalsbericht. Heißt: Die Firmen wissen sehr wohl darum, dass die Menschen in Österreich immer weniger in der Tasche haben. Was da helfen könnte: Höhere Löhne für die eigenen Beschäftigten.