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Demokratie
Klimakrise

Polizei räumt weitere Baustelle der Stadtstraße Wien: "Beängstigend, wie das abläuft"

Mit 400 Einsatzkräften, Hunden, Hubschraubern, Drohnen und Kranfahrzeugen räumt die Polizei das Protestcamp gegen die Baustelle zur Stadtstraße in Wien-Hirschstetten. Vor Ort sind 20 Aktivist:innen. Viele werden festgenommen, das Camp zerstört. Die Stadt Wien sagt zu MOMENT, sie habe nichts damit zu tun. "Totaler Quatsch", sagt Aktivistin Lucia Steinwender. Die ASFINAG sagt, sie erfülle "vertragliche Verpflichtungen mit der Stadt".

Plötzlich geht es ganz schnell. Dienstagvormittag verbreiten Aktivist:innen die Nachricht: „Achtung Räumung!“ Die Polizei sammle sich vor der besetzten Baustelle für die Autobahn-Anschlussstelle Hirschstetten. Die Besetzenden nennen ihr Protestcamp „Grätzel 1“. Gegen 9:30 Uhr taucht die Polizei mit einem Großaufgebot von rund 400 Einsatzkräften dort auf. Die Polizei selbst rechnete mit 15 bis 20 Aktivist:innen, die ihnen im Camp gegenüberstehen würden. Das macht 20 Polizist:innen auf eine Person vor Ort.

Wenig später macht die Polizei ernst und betritt das Gelände. Per Kranvorrichtung werden Wohncontainer vom Gelände gehoben – mit darauf sitzenden und angeketteten Aktivist:innen. Hubschrauber und Drohnen fliegen über das Gelände. Wie das Protestcamp geräumt wird, sei „beängstigend und erschreckend“, sagt Lucia Steinwender, Aktivistin der Klimaschutzgruppe „System Change not Climate Change“ zu MOMENT.

Polizei lässt niemanden in die Nähe der Räumung

Großräumig sperrt die Polizei das Gelände ab. Weder Presse noch Beobachter:innen von Parlamentsparteien erhalten Zutritt. Folge: “Niemand kann wissen, was da genau passiert”, sagt Steinwender. Nur aus der Ferne können Kameraleute dokumentieren, was geschieht. Die Polizei durchkämmt das weiträumige Gebiet mit Hunden.

“Nach dem, was bei der Räumung des Camps an der Hausfeldstraße und den Protesten gegen die Baumfällungen passiert war, hätte ich gedacht, es kann kaum schlimmer kommen”, sagt Steinwender. Dieser Tag habe sie eines besseren belehrt. „Die LPD Wien tritt das Versammlungsrecht mal wieder mit Füßen“, schreiben die Aktivist:innen in ihrem Channel beim Messenger Telegram. „Das ist ein Skandal!“

 
Bild zeigt Gebäude auf besetzter Baustelle, davor Polizei

Rund 20 Aktivist:innen befanden sich auf der Baustelle, als die Polizei mit 400 Kräften anrückte.

System Change not Climate Change

Vor einigen Wochen räumte die Polizei bereits eine monatelang besetzte Baustelle für die von der Stadt Wien geplante „Stadtstraße“. 460 Millionen Euro soll das autobahnähnliche vierspurige Asphaltband kosten. In Hirschstetten soll die 3,2 Kilometer lange „Stadtstraße“ in der Südosttangente A23 münden.

Polizeisprecherin Barbara Gass sagt gegen Mittag, sie rechne „mit einem längeren Einsatz“. Kurze Zeit später melden Besetzer:innen, eine Gruppe von 20 Personen habe die Baustelle „erfolgreich wiederbesetzt“. Via Twitter zieht die Polizei eine Zwischenbilanz: „22 Personen wurden bisher festgenommen.“ Wenig später melden die Einsatzkräfte, zwei Personen seien in einem Erdloch und „jeweils mit einer Hand einbetoniert. Unsere Kolleg*innen sind dabei, sie zu befreien“.

Wiener Linien mit Linienstopp und Fahrscheinkontrolle

Die Wiener Linien fahren wie bei der vorherigen Räumung Haltestellen in der Nähe nicht mehr an. Buslinien werden umgeleitet. Sprecherin Katrin Liener sagt zu MOMENT, die Wiener Linien hätten das nicht selbst entschieden. „Es ist eine polizeiliche Anordnung, der wir natürlich Folge leisten“.   

Was die Protestierenden aufregt: Während die Polizei das Camp räumt, kontrollieren die Wiener Linien Fahrscheine am Bahnhof Kagraner Platz und in der Buslinie 26A. Also genau dort, wo Unterstützer:innen vorbeikommen, die dem Aufruf folgten, zur Baustelle zu kommen. „Auch diesmal stellen sich die Wiener Linien anscheinend ganz klar gegen den Klimaschutz“, schreiben Aktivist:innen von „Lobau bleibt“.

Gegenüber MOMENT bestätigt Liener später, dass Fahrscheine kontrolliert wurden. Aber: Es sei schlicht Zufall, dass das in der Nähe der Baustelle stattfand und während die Polizei das Gelände räumte. „Der Vorwurf, wir würden das absichtlich machen, trifft nicht zu“, sagt Liener.

 
Bild zeigt Kran, der Menschen von Gebäude trägt, davor Polizei und Fahrzeuge.

Hundertschaften der Polizei waren im Einsatz, holten Aktivist:innen vom Dach eines Gebäudes.

Phili Kaufmann / System Change not Climate Change

Stadt Wien sagt: Nicht unsere Baustelle

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace ruft zu einer Solidaritäts-Demonstration direkt vor der Polizeiabsperrung auf. Agnes Zauner, Geschäftsführerin der Klimaschutz-NGO schreibt in einer Aussendung: „Die Räumung unterstreicht erneut die rückständige Verkehrspolitik der Stadt Wien in der Donaustadt.“ Ihre Organisation hat eine spontane Kundgebung angemeldet.

Die Stadt Wien weist gegenüber MOMENT zurück, etwas damit zu tun zu haben, dass das Protestcamp jetzt geräumt werde. „ASFINAG Baustelle, bitte dort nachfragen“, schreibt Anita Voraberger lapidar. Sie ist Sprecherin der zuständigen Stadträtin für Mobilität und Stadtplanung Ulli Sima (SPÖ). Die ASFINAG betreibt sämtliche Autobahnen des Landes. Sie gehört der Republik Österreich und finanziert Autobahn-Bauten wie den in Hirschstetten.

Auf die Frage an die Stadt Wien, ob das Rathaus vorab informiert wurde oder eingebunden war in die Entscheidung, die – auf dem Stadtgebiet liegende – Baustelle zu räumen, geht Sprecherin Voraberger nicht ein. Sie bittet stattdessen, sich auch an Klimaschutz- und Mobilitätsministerin Leonore Gewessler (Grüne) zu wenden.

Die SPÖ hat jetzt offenbar einen Zahn zugelegt, Fakten zu schaffen.
Lucia Steinwender, System Change not Climate Change

Als “totaler Quatsch” bezeichnet Aktivistin Lucia Steinwender die Aussage der von SPÖ und NEOS regierten Stadt Wien, bei der Räumung keine Rolle zu spielen. Im Gegenteil: “Die SPÖ hat jetzt offenbar einen Zahn zugelegt, Fakten zu schaffen”, sagt sie. Egal, wer die Baustelle faktisch besitze und betreibe: “Wer hat die Macht, die Stadtstraße zu kippen? Es ist die Stadtregierung von Bürgermeister Michael Ludwig”, sagt sie. Die ASFINAG sei “offenbar massiv unter Druck gesetzt worden, die Räumung zu veranlassen”.

ASFINAG erfüllt Verpflichtungen gegenüber Stadt Wien

Vonseiten der ASFINAG heißt es, sie „setzt heute die Bautätigkeit bei der bestehenden A23 Anschlussstelle Hirschstetten fort“. Das schreibt Sprecherin Alexandra Vucsina-Valla auf MOMENT-Anfrage. Zusatz: „Grund dafür sind vertragliche Verpflichtungen der ASFINAG gegenüber der Stadt Wien.“

Vucsina-Valla sagt auch, die Baustelle in Hirschstetten hänge nicht mit der Stadtstraße zusammen. Es gehe hier „um einen Umbau bei einer bereits bestehenden Anschlussstelle – es ist kein Neubau“. Der rund 20 Millionen Euro teure Bau sei „an sich weder ein Teil der Stadtstraße, noch der S1“, so Vucsina-Valla.

Allerdings: Die Stadtstraße und ihre Verlängerung, die S1, soll eben genau an dieser Anschlussstelle in die Südosttangente A23 einmünden und von ihr abzweigen. Zu sagen, die Bauarbeiten dort hätten nichts mit der umstrittenen Neubautrasse zu tun, ist zumindest kreativ.

Camp plattgemacht, Aktivist:innen besetzen nächsten Bagger

Der Autobahnbetreiber will jedenfalls schnell Tatsachen schaffen: Die Arbeiten würden nach erfolgter Räumung „umgehend aufgenommen“. Am frühen Nachmittag melden die Aktivist:innen: „Die Baustelle wurde soeben geleert.“ Aktivist:innen seien von der Polizei mitgenommen worden und die Bauten des Camps niedergerissen und zerstört.

 
Bild zeigt Bagger auf Baustelle, darauf Besetzer:innen mit Spruchtafeln.

Direkt nach der Räumiung besetzten Aktivist:innen gegen die Stadtstraße einen Bagger auf einer weiteren Baustelle.

System Change not Climate Change

Die Gegner:innen des Projekts, das Klimawissenschaftler:innen ebenso kritisieren wie Stadtplaner:innen, geben sich kämpferisch: „Es ist noch nicht zu spät zu kommen, der Protest geht weiter!“ rufen sie Unterstützer:innen auf, sich ihnen anzuschließen.

Kurz darauf melden sie, einen Bagger an einer wenige Hundert Meter entfernten weiteren Baustelle besetzt zu haben. Für den Abend ist eine Protestkundgebung in der Löwelstraße geplant – vor der Parteizentrale der SPÖ, die die Stadtstraße unbedingt durchsetzen will.

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