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Fortschritt

Boom, Bust, Quit: Wenn Geld alles ist und alles andere nichts – und Alternativen dazu

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Wir haben uns an den Kapitalismus derart gewöhnt, dass er alternativlos erscheint. Dabei gibt und braucht es Alternativen. Beim 17. Momentum Kongress in Ossiach sprechen Menschen aus Wissenschaft, Politik oder Zivilgesellschaft über solche Alternativen. Warum es die braucht und wieso wir nicht aufhören dürfen, nach ihnen zu suchen und sie einzufordern, erfährst du in der Eröffnungsrede von Barbara Blaha.

Die “Alternative” ist nicht die langweilige Schwester der “Revolution”. Es ist die radikale Cousine, die aus einem komplett anderen Holz geschnitzt ist. Die unberechenbarer ist.

Die Furcht vor Alternativen

Warum? Die Revolution ist ein Prozess, der eine bestehende Ordnung hinwegfegt. Natürlich gehört zur Revolution die Angst vor der Revolution dazu: Nicht erst seit dem zwanzigsten Jahrhundert, auch nicht erst seit der Französischen Revolution. Der Sturz des Bestehenden war immer schon mit großen Ängsten besetzt.

Mitunter zurecht. Aber meist ist diese Angst die Folge eines Trugschlusses: Das, was ist, mag unbefriedigend sein, mag uns stören oder unter Druck setzen. Aber: Wir kennen es. Immerhin! Und es mag noch so offensichtlich instabil und destruktiv sein: Allein, weil wir es kennen, halten wir es für kalkulierbarer als jede Alternative.

Die Furcht vor den Alternativen ist eng damit verbunden, wie wir aufwachsen. Pablo Picasso hat als alter Mann einmal gesagt, er habe schon als kleines Kind zeichnen können wie der Maler Raffael. Aber er habe ein Leben lang gebraucht, um wieder wie ein Kind zeichnen zu können.

Wir müssen wieder staunen

Er hat dabei auf etwas angespielt, das uns viel über die Angst vor der Alternative erklären kann: das Staunen. Im Lauf unseres Lebens verlieren wir die Fähigkeit zu staunen. Das Besondere am Staunen eines jeden Kindes ist, dass es ganz im Augenblick gefangen ist. Es staunt im Moment über etwas, das ist, ohne es zu hinterfragen – einfach, weil es existiert. Das Kind wird überwältigt durch die Realität.

Wer schon einmal ein Kleinkind zum Kindergarten begleitet hat, weiß: Kinder staunen über einen Stein, einen Löwenzahn, der sich durch den Asphalt bricht, über eine Kastanie. Alles um sie herum will und muss bestaunt werden. 

Aber wir? Wir müssen ins Büro, in die Telefonkonferenz, zum Termin! Zum Staunen bleibt keine Zeit. Einen Gutteil unserer erzieherischen Energie verwenden wir Eltern und die Gesellschaft darauf, Kindern dieses Staunen, dieses spontane Fühlen abzugewöhnen. Ihnen kalkulierbares Verhalten beizubringen. Sie passend für unsere Welt zu machen. Unbestritten: Unseren Alltag erleichtert es enorm, wenn man nicht verschwitzt in die Arbeit kommt, nur weil “jemand” über eine leere Bierdose gestaunt hat, statt in die Straßenbahn zu steigen.

Aber es macht es uns später schwer, in Alternativen zu denken.

Kann es so etwas geben wie erwachsenes Staunen? Eines, das über den Moment sogar hinausgeht und die Frage aufwirft: Was könnte alles sein?

Theodor Adorno hat das im Entwurf für eine Rektoratsrede seines Freundes Max Horkheimer eingefordert. Die Rede richtete sich an Studierende und er sagte: „Mit der Treue zur Kindheit […] meine ich, daß Sie sich nicht den Traum eines richtigen, unentstellten Lebens, den Traum des ganzen Glücks für sich und für alle, verkümmern lassen dürfen […]. Der Begriff des Menschen selber haftet an dem Gedanken dessen, was mehr ist als die Menschen und ihre Existenz heute sind, und was schließlich doch verwirklicht werden muß, an der Utopie. Damit möchte ich Sie nicht zum Schwärmen ermutigen […], aber jenes unwägbare feine Gefühl, daß das, was ist, nicht die ganze Wahrheit ist, daß es ganz anders sein könnte und anders sein soll, muß jeder Erkenntnis dessen, was ist, sich gesellen; sonst ist es keine Erkenntnis, sondern die stumpfsinnige Wiederholung des bloßen Daseins.”

Was anders sein könnte, müssen wir immer neben das, was ist, stellen. Erich Fromm und Albert Einstein haben es auf zwei knappe Formeln gebracht: Fromm hat gesagt: „Die Fähigkeit zu Staunen ist der Anfang aller Weisheit.“ Und Einstein hat im Umkehrschluss ergänzt: „Wer sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Wir sollen nicht staunen, sagt die Religion

Am metaphorischen Erlöschen unserer Augen arbeiten ganz unterschiedliche Seiten.

Die Buchreligionen haben dafür einen Judo-Trick parat: Sie negieren die Sehnsucht nach Alternativen zum gesellschaftlichen Ist-Zustand nicht – sie nehmen den Schwung auf, aber schieben sie einfach ins Jenseits. Und machen sich diese Sehnsucht damit dienstbar. Der Wunsch nach der Utopie wird gewendet und ins Himmelreich projiziert. Leid und Tod werden nicht als notwendiger Teil des Lebens interpretiert, sondern als metaphysisches Nullsummenspiel, als Eintrittskarte ins transzendentale Glück. Das soll man nicht a priori gering schätzen, die Tröstung unserer Todesangst ist offensichtlich ein tiefer Wunsch ganz vieler Menschen.

Aber wie Fromm in „Die Furcht vor der Freiheit“ bemerkt, wird damit einerseits etwas negiert, das „einer der stärksten Antriebe für das Leben ist, eine Grundlage für menschliche Solidarität, eine Erfahrung, ohne die der Freude und Begeisterung Intensität Tiefe fehlen.“ Andererseits wird aber auch klargestellt: Wer sich eine Alternative zum wahrlich nicht perfekten Ist-Zustand wünscht, der muss sich gedulden, bis er zur Rechten des Herrn Platz nehmen darf. Natürlich er, sie ja eher nicht. In dieser, unserer gegenwärtigen Welt hat nur Platz, was schon in ihr ist.

Kapitalismus als stärkste Religion

Religion ist ein Faktor. Was unsere gegenwärtige Welt – und uns – aber endgültig so prägt, dass wir es nachgerade für so natürlich halten wie die Schwerkraft, ist die Art und Weise, wie unsere Wirtschaft organisiert ist.

Dabei hilft es ja schon, sich einfach mal daran zu erinnern: Den Menschen hat es ja schon gegeben, bevor es den Kapitalismus gegeben hat. Besuchen wir doch einen seiner Geburtsorte. In dem Fall einen, den der britische Guardian-Journalist George Monbiot recherchiert hat. Fahren wir gemeinsam zu einer Insel im atlantischen Ozean vor der Westküste Afrikas: Madeira. Dort kommen im 15. Jahrhundert auch die Portugiesen vorbei gesegelt. Die sind gerade dabei, sich ein Weltreich zusammenzuplündern.

Wie Madeira zerstört wurde – im Namen das Kapitalismus

Weil sie das nicht im Namen der Gier und der Geltungssucht tun, sondern im Namen der Zivilisation, berufen sich die Portugiesen – wie nach ihnen auch die Spanier und andere Kolonialherren – auf ein Konstrukt, das später als Terra Nullius in die Rechtsgeschichte eingeht: Man hat einfach behauptet, ein Gebiet, das man sich anzueignen gedenkt, gehöre niemandem, sei Niemandsland. Anders als die afrikanischen und asiatischen Territorien, die sich die Portugiesen Untertan machten, war Madeira immerhin tatsächlich unbewohnt.

Aus dieser Tatsache haben die Portugiesen das Recht abgeleitet, buchstäblich alles mit der Insel tun zu dürfen. „Madeira“ bedeutet auf Portugiesisch „Holz“. Die Insel wurde nach der ersten Ressource benannt, die ihre neuen Herren ausgebeutet haben: Die Wälder im Mutterland der Seefahrernation Portugal waren längst für den Schiffsbau abgeholzt worden, der Baumbestand erschöpft. Nun wurde Madeira entwaldet.

Auf den Flächen, die durch die Rodung entstanden, hielt man zunächst Rinder und Schweine. Dann hatte man eine lukrativere Idee: den Anbau von Zuckerrohr. Bis zu diesem Zeitpunkt war jede wirtschaftliche Aktivität in irgendeiner Form eingebettet in soziale Strukturen: Herrscher:innen kannten ihre Ländereien, Untertanen wussten um ihre Obrigkeit. Auf Madeira galt all das nicht mehr. Land, Ressourcen und Arbeitskraft waren durch keinerlei soziale Bande mit denen verbunden, die Profit daraus schlugen, alle drei Elemente bis zur Erschöpfung auszubeuten. Damit hat selbst dieser letzte Rest an Rücksicht gefehlt, an den sich Feudalherren auf dem europäischen Kontinent üblicherweise noch gehalten haben, auch wenn sie auf Kosten ihrer Untertanen im Überfluss gelebt haben.

Diejenigen portugiesischen Investoren, die jetzt im fernen Lissabon durch die Profite reich werden, die auf Madeira erwirtschaftet werden, haben die Insel nie gesehen. Genauso wenig die Menschen oder das, was sie hergestellt haben: Der gesamte Produktionsprozess wurde reduzierbar auf nüchterne Zahlen.

Die Portugiesen haben Sklaven importiert, zunächst von den Kanaren, und als sie die leergeräumt hatten, aus Afrika. Die durchschnittliche Lebenserwartung in dieser unmenschlichen Sklaverei: sieben Jahre. Weil man Sklaven weder Lohn zu zahlen braucht; noch sie angemessen unterbringen, verpflegen oder bekleiden muss; weil man Menschen und Umwelt rücksichtslos ausbeuten kann, ist das vollständig kommerzialisierte Zucker-Regime auf Madeira in einer bis dahin ungekannten Dimension profitabel: In den 1470ern, nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung, ist die winzige Insel Madeira schon der größte Zuckerproduzent der Welt.

Der Kapitalismus scheitert an sich selbst

Aber noch etwas ist neu: die atemberaubende Geschwindigkeit, in der diese Art des Wirtschaftens an sich selbst scheitert. Im Jahr 1506 hat die Zuckerrohrproduktion ihren Höhepunkt erreicht – um dann innerhalb von nur zwanzig Jahren um 80 Prozent einzubrechen. Warum? Weil auf Madeira der namensgebende Rohstoff zur Neige gegangen ist: das Holz. Um nur ein Kilo Zucker herstellen zu können, mussten 60 Kilo Holz verfeuert werden.

Die mussten die Sklaven aus immer größeren Distanzen herbei schaffen. Es war also ein immer höheres Maß an Arbeit notwendig, um die Produktion stabil zu halten. Ökonomisch ausgedrückt: Die Arbeitsproduktivität ist dramatisch gefallen, innerhalb von zwanzig Jahren auf ein Viertel. Die Böden waren ausgelaugt, die rigorose Abholzung hat für das Aussterben erster Tierarten gesorgt – das ökologische Gleichgewicht der Insel ist kollabiert. Und was haben die Portugiesen gemacht? Das, was Kapitalisten überall tun. Sie sind abgehaut. 

Boom, Bust, Quit: Kapitalismus zerstört

Sie haben ein zerstörtes Land hinterlassen und sind mit ihrem Zucker und „ihren“ Sklaven weitergezogen. Zunächst auf eine Insel weiter südlich, nach Sao Tomé. Dort haben sie das Rezept von Madeira einfach wiederholt: Boom, Bust, Quit. Und dann? Weiter nach Brasilien! Seitdem wurde das Muster, das in Madeira Profit (für die Portugiesen) und dann den Zusammenbruch gebracht hat, unzählige Male auf der ganzen Welt wiederholt.

Die Enteignung, Ausbeutung und das anschließende Zurücklassen von zerstörten Räumen ist der Kernbestandteil des Modells, das wir Kapitalismus nennen. Boom – Bust – und dann Bye-Bye. Das ist es, was man tut, wenn Geld alles ist und alles andere nichts ist. Ständiges Wachstum gibt es nur, wenn es ständig neue Gebiete gibt, die man jemandem rauben, sie nach Strich und Faden ausbeuten und anschließend einfach wieder aufgeben kann. Die letzten Gebiete, die in diesem Sinne auf Erden bisher noch unberührt geblieben sind, sind die Böden der Ozeane – und die Antarktis. Es liegt daher in der “Natur” – nein, natürlich in der Logik der Sache – dass inzwischen intensiv nach Möglichkeiten gesucht wird, auch die noch auszusaugen. Wenn auf Erden nichts mehr zu holen ist, bleiben noch Planeten und Asteroiden. Nach dem Meeresboden kommt jetzt eben der Mars dran. Auch dort oben gibt es schließlich Mineralien zu holen. 

Wenige Gewinner, viele Verlierer:innen

Warum ist das frühneuzeitliche Madeira relevant für unser Thema heute? Für die Frage nach den Alternativen? Weil Madeira uns zeigt, dass ein derart ausbeuterisches, schonungsloses System wie der Kapitalismus seine wahre Natur nicht offenlegen kann, wenn er mit Unterstützung rechnen will. Er muss seine wahren Absichten, seine Motive und natürlich auch die absehbaren Folgen verschleiern, während er die Lebensgrundlagen der breiten Bevölkerungsmehrheit zerstört.

Und er muss zumindest einem Teil derer, auf deren Kooperation er angewiesen ist, das Gefühl geben, auf der Gewinnerseite zu stehen. Den Rest muss er Glauben machen, dass er keine andere Wahl hat. Dass es keine Alternative gibt. In welcher Form auch immer. Die portugiesischen Sklaventreiber auf Madeira haben die sinkenden Erträge der Kolonie zuhause übrigens zuerst mit schrecklichen Waldbränden erklärt, die sieben Jahre lang gewütet und alles Holz der Insel vernichtet hätten.

Eine Apokalypse hatte ja tatsächlich stattgefunden. Aber an ihr war nichts Natürliches.

Das Märchen unserer Zeit ist ein neoliberales

Alle ausbeuterischen Systeme benötigen Märchen, die sie rechtfertigen. Heute muss man gar keine Naturkatastrophen mehr erfinden. Das Märchen unserer Gegenwart ist die neoliberale Grunderzählung, die wir alle aufgesogen haben. Der zentrale Glaubenssatz: Der Wettbewerb ist das bestimmende Merkmal der Menschheit. Wir alle sind gierig und egoistisch, macht aber nix, denn diese Gier und dieser Egoismus werden uns auf magische Weise den Weg zur gesellschaftlichen Verbesserung zeigen und uns irgendwann einmal alle reicher machen.

Damit das gelingt, dürfen wir nur eines nicht: Die natürliche, leistungsorientierte Hierarchie von Gewinner:innen und Verlierer:innen stören. Der Markt wird – wenn man ihn in Ruhe lässt – bestimmen, wer es verdient, erfolgreich zu sein, und wer nicht. Die Talentierten und Fleißigen werden sich durchsetzen, während die Unfähigen, Schwachen und Inkompetenten scheitern werden. Ein aktiver Staat, der versucht, das Marktergebnis zu ändern, der darin eingreift, zum Beispiel durch – Gott bewahre – Verteilungspolitik, der behindert nicht nur die Entstehung dieser natürlichen Ordnung, er belohnt die Verlierer:innen.

Ist der Mensch im Kern verdorben?

Damit diese Geschichte funktioniert, ist es zuerst einmal am wichtigsten, dass wir die Grundannahme glauben: “Der Mensch ist im Kern verkommen.” Gierig, geizig, gnadenlos.

Und dieses Menschenbild ist tatsächlich weit verbreitet. Die meisten Menschen denken zwar von sich selbst, dass sie durchaus in Ordnung sind. Aber die anderen! Die Erzählung darüber lässt sich bis zum englischen Mathematiker und Philosophen Thomas Hobbes zurückverfolgen, der davon ausgegangen ist, dass wir nach dem Prinzip “jeder gegen jeden” leben. Und die Geschichten, die wir uns erzählen, die erzählen uns ja auch immer wieder von genau diesem Prinzip. In Filmen, Literatur, Trash-TV.

Die meisten kennen vermutlich “Der Herr der Fliegen” von William Golding. Das Buch lehrt uns eindrücklich, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist. Kaum abgeblättert, regieren Chaos, Gewalt und Egoismus.

Eine Gruppe britischer Buben strandet nach einem Flugzeugabsturz auf einer unbewohnten Insel. Anfangs versuchen sie noch eine Art von Ordnung zusammenzuhalten, aber das geht rasch schief. Ihr Lagerfeuer geht ihnen aus, weil sie nicht aufpassen, sie streiten immer heftiger, schließlich kommt es zu Gewaltexzessen und die Kinder ermorden sich gegenseitig. Als sie schließlich die ganze Insel abfackeln, sieht ein Schiff die riesige Rauchsäule und rettet die überlebenden Jungen.

Die echten Herren der Fliegen

Diese Geschichte ist natürlich frei erfunden – Literatur eben –  aber sind wir einmal ehrlich: Wir wissen doch, sie könnte genau so passiert sein. Oder? Der Historiker Rutger Bregman hat für das Buch “Im Grunde gut” lange gesucht, ob so eine Geschichte nicht vielleicht einmal wirklich passiert ist. Er wollte wissen: Was passiert denn wirklich, wenn so etwas passiert? Und er hat die wahren Herren der Fliegen tatsächlich aufgespürt, er hat einen Fall gefunden:

Sechs Jungen, die in den 1960er Jahren auf einer einsamen Insel stranden. Die Jungen besuchen ein Internat in der tongaischen Hauptstadt Nuku’alofa. Dort langweilen sie sich zu Tode, also stehlen sie ein Boot, um auf das offene Meer zu segeln. Ein Sturm holt sie ein, und sie verlieren die Kontrolle über das Boot. Schließlich stranden sie auf der unbewohnten Insel ‚Ata, rund 160 Kilometer von Tonga entfernt.

Sie fangen an, ihren neuen Alltag zu organisieren, indem sie feste Regeln aufstellen. Jeder bekommt eine Aufgabe: Sie kochen im Team, sammeln Wasser, halten das Feuer am Brennen. Sie essen Fische und Vögel, Kokosnüsse und legen einen Garten an, um Gemüse anbauen zu können. Wenn es Streit gibt, müssen die Streithanseln an gegenüberliegende Enden der Insel, bis sich alle wieder beruhigt haben. Sie überleben unglaubliche 15 Monate völlig auf sich gestellt, in guter körperlicher Verfassung, bevor sie von einem australischen Kapitän entdeckt und gerettet werden.

Bis heute sind die Jungen eng befreundet.

Der Mensch ist hilfsbereit, solidarisch und kooperativ

Bregmans Fazit aus dieser Geschichte und vielen Studien, die er ausgegraben hat: Der Mensch ist im Wesentlichen: hilfsbereit, solidarisch und auf Kooperation ausgerichtet. Das ist es, was ihn so erfolgreich macht. In uns Menschen, würde ich meinen, steckt eben beides. Warum aber ist es relevant, welches Menschenbild dominiert? Mein Bild auf mein Gegenüber bestimmt mein Verhalten ihm gegenüber: Begegne ich ihm vertrauensvoll? Oder misstrauisch? Seine Reaktion wird sich entsprechend meiner Erwartungshaltung anpassen. Mit meiner Erwartungshaltung erschaffe ich also erst das Verhalten, das mich wiederum darin bestärkt, dass Menschen “eben so sind”. 

Warum pickt die Geschichte vom gierigen, geizigen und gnadenlosen Menschen so? Dass es nur so laufen kann und dass der Staat sich da bitteschön nicht einmischen soll?

Neoliberale Wölfe im Schafspelz

Weil sich ihre wichtigsten Erzähler viel Zeit genommen haben, um uns diese Geschichte gut zu verkaufen. Friedrich Hayek hat sein „Der Weg in die Knechtschaft“ schon 1944 veröffentlicht. Seine zentrale These: Der Wohlfahrtsstaat schränkt den Einzelnen dermaßen ein, dass auf Sicht ein totalitäres System daraus entstehen müsse.

Das Buch wurde ein großer Erfolg – beliebt insbesondere bei sehr vermögenden Menschen. Hayeks Theorie rechtfertigt nicht nur alle ihre politischen Ziele. Weniger Steuern, weniger Regulierung, weniger Staat. Es tarnt ihren finanziellen Egoismus allen Ernstes als mutiges Auftreten gegen baldige Tyrannei. 

Und davon sollten alle erfahren. Der Herausgeber von Reader’s Digest, zu jener Zeit mit acht Millionen Abonnent:innen das beliebteste Magazin in den USA, hat prompt eine Kurzfassung des Buches veröffentlicht. Eine Million Exemplare wurden gedruckt für Unternehmer, die das Buch an ihre Mitarbeiter:innen verteilen ließen. Wer nicht so viel lesen wollte, bekam eine Bildergeschichte: Eine Cartoon-Fassung wurde an alle Mitarbeiter:innen von General Motors ausgeteilt. Hayek hat derweil die erste Organisation zur Förderung des Neoliberalismus gegründet, die Mont Pelerin Society – und daraus ein transatlantisches Netzwerk aufgebaut.

Als Neoliberalismus noch radikal war

Am Anfang, da waren Hayek und seine Runde aus Markt-Fetischisten noch eine kleine Minderheit. Ein paar Radikale. Der Mainstream war ganz woanders. Der hat damals gesagt: Ein kräftiger, gesunder Staat ist der beste Schutz für uns alle. Zeitweise war sogar in den USA der Spitzensteuersatz bei über 90 Prozent. Völlig selbstverständlich.

Hayek und Co. haben etwas verstanden: Der Aufbau von Alternativen braucht eine Weile. Wer etwas ändern will, braucht einen langen Atem – und Mitstreiter:innen.

„Die Zeit, die neue Ideen brauchen, um sich durchzusetzen, beträgt gewöhnlich eine Generation oder sogar mehr”, hat Hayek gesagt. “Das ist ein Grund, warum (…) unser gegenwärtiges Denken zu machtlos scheint, um die Ereignisse zu beeinflussen.”

Das hat sie aber nicht entmutigt. Das hat sie bestärkt. Und sie haben viele Mitstreiter:innen gefunden. Antony Fisher, ein britischer Unternehmer, der mit Massentierhaltung reich geworden ist, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wahlsieg der Sozialdemokratie die Sorge, dass Großbritannien zu weit nach links rutschen könnte. Er überlegte, selbst in die Politik zu gehen und bat Hayek um Rat. Hayek warnte Fisher eindringlich davor, Fisher solle seine Zeit nicht damit verschwenden, sich Wahlen zu stellen. Der entscheidende Einfluss „in der großen Schlacht der Ideen und der Politik“ gehe von Intellektuellen aus, in Hayeks Worten den „Gebrauchtwarenhändlern für Ideen“. Sie sind es, die den politischen Diskurs drehen können. Antony Fisher zögerte nicht lange und gründete gemeinsam mit Oliver Smedley den ersten europäischen neoliberalen Thinktank, das Institute of Economic Affairs. Ein Brief von Smedley an Fisher zeigt, dass der wahre Zweck des Instituts von Anfang an verschleiert wurde. „Es ist zwingend erforderlich, dass wir in unseren Publikationen keinen Hinweis darauf geben, dass wir daran arbeiten, die Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung zu erziehen.“

Die Krise als Chance und Gefahr

Und dann öffnet sich für sie endlich ein Möglichkeitsfenster: In den 1970er Jahren geht der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit zu Ende und der Neoliberalismus füllt das ideologische Vakuum, das dadurch entsteht. „Als die Zeit gekommen war, waren wir bereit … und konnten sofort loslegen,“ erzählt Milton Friedmann – man kann den Stolz raushören.

Die Ideologie, die 30 Jahre lang in Denkfabriken und akademischen Abteilungen ausgebrütet worden war – mit großzügiger Unterstützung wohlhabender Geldgeber – war geboren.

Vorherrschaft muss verteidigt werden – mit allen Mitteln

Nun galt es abzusichern. Hegemonie, die Vorherrschaft, ist kein fixer Zustand, sie ist ein Prozess. Kaum ist sie hergestellt, muss sie abgesichert und verteidigt werden. Immer und immer wieder. Bis heute werden laufend neue Institute aus dem Boden gestampft. 2017 hat das Atlas Network, eine Art Dachverband neoliberaler Think Tanks, knapp 500 Denkfabriken in über 90 Ländern unterstützt.

All diese Institute werden von den reichsten Menschen dieser Welt finanziert. Die gehen damit nicht so gern hausieren, wie einer von ihnen, der berüchtigte Multi-Milliardär Charles Koch, bei der Gründung eines seiner vielen Lobby-Institute zu Protokoll gegeben hat: “Um unerwünschte Kritik zu vermeiden, sollte die Art und Weise, wie die Organisation kontrolliert wird, nicht öffentlich bekannt gemacht werden.”

Die Koch-Familie wirtschaftet in den Bereichen Öl und Chemie; aber auch die Gas-, die Finanz- und die Tabak-Industrie schaufeln kräftig Geld in diese Institute. Und das Geld ist dort in deren Sinne gut angelegt.

Ein britischer Atlas-Ableger, ein Think Tank namens “Policy Exchange”, hat sofort nach seiner Gründung begonnen, die Klimabewegung “Extinction Rebellion” zu diffamieren: 2019 hat Policy Exchange ein Paper geschrieben, das ihnen “Extremismus” vorwirft, der das Ziel habe, die “zivile Ordnung und die liberale Demokratie” in UK niederzureißen.

Hier konnte man die Hegemonie-Arbeit der Markt-Ultras live beobachten, denn natürlich war diese Hetze nur der erste Schritt: Zuerst wurden die Klima-Proteste diffamiert, dann wurden sie kriminalisiert. Wo die Gesetze nicht passen, da werden sie passend gemacht: Der damalige britische Premier Rishi Sunak hat sich auf dem Sommerfest von “Policy Exchange” für die großartige Hilfe bedankt. Hilfe beim Schreiben der Gesetzesentwürfe, die die Straßenblockaden von Extinction Rebellion unter Strafe stellen.

Der größte Triumph der Neoliberalen

Der größte Triumph der Neoliberalen ist aber nicht, wenn sie rechte Parteien für sich gewinnen und ihnen sogar die Gesetzesvorlagen buchstabieren dürfen. Ihr größter Triumph ist es, dass sie es geschafft haben, ihre Gegner “umzudrehen”. Jene politischen Kräfte, die einmal für alles standen, was Hajek und seine Freunde verachtet haben.

Bei einem Abendessen wurde die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher einmal gefragt, was sie als ihre größte Leistung in ihrem Leben betrachtet. Ihre Antwort: „Tony Blair und New Labour.“

Warum Blair? Blair hat die Restbestände des Keynesianismus mit den neoliberalen Forderungen seiner Gegner gemischt: Der „Dritte Weg“ war geboren. Wenn deine Ideologie so natürlich scheint, dass selbst der politische Gegner sie übernimmt … was für ein Erfolgsprojekt. Es wirkt bis heute. 

Wie der Staat zu unserem Feind wird

Weite Teile der Gesellschaft glauben nicht mehr an die Veränderbarkeit der ökonomischen Verhältnisse. Wir beklagen das „Versagen des Staates“, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, dass vielleicht nicht der Staat versagt … sondern der neoliberale Staat.

Staatliche Einmischung, Politik die hinschaut und eingreift, ist das Gegenteil von dem, was erwünscht ist. Der Staat kann unsere Probleme nicht lösen – und er soll sie auch nicht lösen können. George Monbiot, der Guardian-Journalist, hat diesen Gedanken weiter ausgeführt. Wenn aber das dichte Netz, das uns an den Staat bindet – gute öffentliche Dienstleistungen, exzellente Schulen, ein Gesundheitssystem, auf das wir uns verlassen können – wegbröselt; wenn keiner mehr glaubt, später in Würde und gut abgesichert alt werden zu können, dann bleiben nur die schlimmsten Aspekte des Staates übrig: Zwang und Unterdrückung. Der Staat wird zu unserem Feind.

Die Demokratie ist in Gefahr

Und dann stößt der Aufruf, bei den Wahlen doch bitteschön “die Demokratie zu schützen”, bestenfalls auf taube Ohren. Schlimmstenfalls erreicht er das Gegenteil. Und dann ist das Land “reif” für Männer wie Trump, Orban, Kickl. 

72 Prozent der Weltbevölkerung leben heute unter „einer Form autoritärer Herrschaft“. Was Friedrich Hayek einst zu fürchten behauptete – den Aufstieg eines neuen Totalitarismus – ist auf seinem ideologischen Fundament gebaut. Hier ist es, wo wir heute stehen.

Wenn die Alternativen nicht gesucht und gefunden werden, wird jener Teil des politischen Spektrums weiter gedeihen, der in Symbiose mit dem Hass lebt: Hass schüren, Hass ernten.

Die Hassbewirtschaftung lenkt den Zorn nicht gegen jene, die Alternativen verhindern, sondern gegen die, die sie dringender brauchen als alle anderen. 

Hier ist es, wo wir heute stehen.

Wir sind weit gekommen – im Rennen nach rechts

Und wie weit wir schon gekommen sind im Rennen nach rechts; wie weit wir schon gekommen sind auf dem Weg in eine “Form autoritärer Herrschaft”, das können wir uns vergegenwärtigen, wenn wir unsere Situation heute mit der in den 1990ern vergleichen, nur eine Generation vor uns.

Damals hat Jörg Haider systematisch begonnen, mit Fremdenfeindlichkeit Politik zu machen. Sein Volksbegehren „Österreich zuerst“ hat eine breite Reaktion der österreichischen Gesellschaft provoziert: 1.500 NGOs, Vereine, Initiativen, kirchliche Verbände – von der Kommunistischen Partei bis zum Kartellverband haben zur größten Demonstration in der Geschichte der Zweiten Republik mobilisiert.

Was früher tabu war ist heute Gesetz

30 Jahre später lockt die rechtsextreme Rhetorik niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Von den Forderungen in Haiders Volksbegehren sind 70 Prozent längst umgesetzt, vieles davon ohne, dass die FPÖ überhaupt mitregiert hätte. In Deutschland erringt eine offen rechtsextreme Partei in einzelnen Bundesländern Spitzenpositionen, während auf Bundesebene die einen zwar von der “Brandmauer” reden, aber jede Wortmeldung von Friedrich Merz ein Schlagbohrer-Angriff auf eben diese Mauer ist.

FPÖ in Österreich: Nachfolgeorganisation der NSDAP als stärkste Kraft im Parlament

In Österreich sind wir schon einen Schritt weiter: Die FPÖ ist stärkste Kraft im Parlament und ganz ehrlich, wundert ihr euch nicht auch, wie abgestumpft wir alle das schon zur Kenntnis nehmen? Dabei ist die FPÖ nicht „nur“ historisch faktisch die Nachfolgeorganisation der NSDAP. Die FPÖ lebt dieses Erbe auch beherzter denn je: hetzt gegen Minderheiten, fordert die Abschaffung der Menschenrechte, verbreitet gezielt wahnwitzige Verschwörungserzählungen. Schlagende Burschenschafter und Rechtsextreme aus der Identitären Bewegung sind fester Bestandteil ihrer Parteistruktur.

Erstmals seit 1945 definiert eine politische Kraft ganz offen die Nation wieder als Abstammungsgemeinschaft. Heute nennen sie es „ethnische Gemeinschaft“; früher hätten sie „Rasse“ dazu gesagt. All das ist schlimm genug.

Noch schlimmer ist aber, dass dieses “Angebot” immer weiter in die Mitte der Gesellschaft sickert. Dass ehemals große Volksparteien versuchen, die FPÖ zu kopieren; sie rechts zu überholen, um sie zu besiegen – auch das nehmen wir längst resigniert zur Kenntnis.

Aber das Gift sickert immer weiter. Neulich konnte man in der größten liberalen Tageszeitung, dem Standard, lesen: Eric Frey, einer der führenden Wirtschaftsjournalisten des Landes, plädiert dafür, endlich Abschied von den Menschenrechten zu nehmen. Schuld am Aufstieg der Rechten sind die Asylgesetze und die Gerichte, die sie durchsetzen. Fahren wir endlich ab damit, dann graben wir den Rechten das Wasser ab.

Hier ist es, wo wir heute stehen. 

“Warum ist es so schwer, die Welt zu lieben?”

Der Philosoph Antonio Gramsci hat den Satz geprägt: „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“. Was er damit meint: Konfrontiere dich mit der Realität. Versuch zu verstehen, wie die Dinge zusammenhängen. Tu das, auch wenn es dich fertig macht oder dich nachts wach hält. Nur dann sind wir in der Lage, zu fragen: „Nun, hier ist es, wo wir stehen. Und was kann sich ändern? Wo sind die Risse und Widersprüche? Wo die Verbündeten? Wo die Hebel, die sich bewegen lassen?”

Über diese Frage hat sich auch Hannah Arendt in ihrem Denktagebuch Gedanken gemacht. Sie hat einen kleinen Satz notiert: “Amor mundi  –  warum ist es so schwer, die Welt zu lieben?” Es ist schwer, die Welt zu lieben, wie sie ist: voller Ungerechtigkeit und Leid. Und doch betont Arendt die Notwendigkeit, es trotzdem zu tun. Sie meint damit nicht blinde Liebe. Also die Augen zu verschließen vor der Realität. Nein, ganz im Gegenteil: Sie fordert uns auf, ganz genau hinzusehen, alles zu sehen, alles Schreckliche und alles Gute. Amor mundi, die Liebe zur Welt, ist für Arendt eine politische Grundhaltung. Eine Tugend fast, die darin besteht, uns mit der unbequemen Realität zu konfrontieren und trotzdem nicht wegzulaufen. Uns nicht abzuwenden, uns nicht in Zynismus zu flüchten.

Es ist diese Liebe zur Welt, die uns dazu bringt, in die Welt einzugreifen. Und sie zum Besseren zu verändern.

Es gibt keine Alternative? Doch!

Angetrieben von der Hoffnung, dass sich etwas verändern lässt. Es braucht dieses Antidot zum Gift der Hoffnungslosigkeit, die sich breit macht, wenn wieder und wieder erklärt wird: “There is no alternative” – eine Phrase, die Margaret Thatcher so oft wiederholt hat, dass sie bald auf das Akronym TINA verkürzt wurde. 

„The most common way people give up their power is by thinking they don’t have any”, hat die Schriftstellerin Alice Walker gesagt: Der einfachste Weg, wie Menschen ihre Macht verlieren, ist, wenn sie glauben, sie hätten gar keine.

Nur wer darauf hofft, die Welt verändern zu können, kann ins Handeln kommen, wird die Hegemonien herausfordern. Die Welt ändern wir, indem wir ändern, wie die Menschen über unsere Gesellschaft denken. Damit meine ich nicht das Herbeisehnen einer Welt, wie sie früher war. Es wird nicht viel bringen, die 70er Jahre in der Mikrowelle wieder aufzuwärmen. Diese Option ist erschöpft.

Die entscheidende Frage ist nicht, wie wir die Zeit wieder zurückdrehen können – sondern welchen Weg wir in Zukunft einschlagen wollen. Indem wir davon träumen, wie sie sein könnte. Uns eine Welt vorstellen, die uns – und andere – staunen lässt. 

Eine Welt ohne Sklaverei war einst unvorstellbar

Und das können wir eigentlich verdammt gut. Das macht uns Menschen aus, dass wir Ideen über Raum und Zeit hinweg denken können. Wir können uns total abstrakte Dinge vorstellen, die es gar nicht gibt: 

Wir können an Götter glauben, an die unsichtbare Hand des Marktes. Daran, dass Fruchtzwerge gesund sind oder Karl Nehammer wirklich gelernter Rhetoriktrainer. 

Und wir können uns Dinge vorstellen, die es noch nicht gibt. Eine Welt ohne Sklaverei war zuerst eine Idee – und dann war sie möglich. Und genau so ist auch eine Welt ohne Öl und Gas möglich – und eine Welt, in der öbszöne Vermögensanhäufung nicht mehr möglich ist. 

Das wird nicht über Nacht geschehen. Und doch ist es machbarer, als es uns heute erscheinen mag. Weil wir es schon so oft geschafft haben, als Menschheit. Wir unterschätzen nur unsere eigene Kraft. Das ist ein Paradox des Fortschritts: Was hinter uns liegt, ist mit Blick in den Rückspiegel völlig selbstverständlich. Mit Blick nach vorne, durch die Windschutz-Scheibe, erscheint alles so zäh und unabänderlich. Im Rückspiegel sehen wir nur mehr das Ergebnis. Und nie die Schlachten davor. 

Geschichtsbücher verkürzen große Umbrüche auf große Momente: Wir kennen die Ansprachen der Anführer:innen und wir kennen den Tag, an dem Veränderungen Wirklichkeit wurden.

Deshalb fühlen wir uns selbst oft so machtlos. Wir lesen im Geschichtsbuch, dass die Lawine abgeht und denken: Wow. Na klar, bei so einer Naturgewalt, natürlich räumt sie jedes Hindernis aus dem Weg. Aber was sollen wir schon …?

Wir vergessen, dass zwischen der ersten Anti-Sklaverei-Bewegung in Großbritannien und dem Tag, als Sklaverei im Empire verboten wurde, 50 Jahre liegen. Wir vergessen, dass zwischen den Haymarket-Riots und der Durchsetzung eines Acht-Stunden-Tages in den USA 52 Jahre vergangen sind. Wir vergessen, dass Nelson Mandela 27 Jahre lang im Gefängnis gesessen ist und dann nochmal vier Jahre lang verhandelt hat, bis die Apartheid Geschichte war.

Wir dürfen, sollen, müssen Wunder erwarten

Wir erinnern nur die Momente, in denen sich die Lawine löst. Aber wir vergessen die Jahre, manchmal Jahrzehnte des Schneefalls, die nötig waren, um das Schneebrett aufzutürmen. Für diesen einen Moment, in dem es abgeht, in dem passiert, was an ein Wunder grenzt. 

Nichts anderes sollten wir erwarten, nicht weniger sollten wir von der Politik einfordern. Oder wie es Hannah Arendt formuliert hat: „In diesem Raum – der Politik – und in keinem anderen – haben wir in der Tat das Recht, Wunder zu erwarten. Nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil Menschen, (…), das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten imstande sind – und es dauernd leisten.” Warten wir nicht länger – wir haben eine Welt zu gewinnen. 

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