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Kapitalismus
Arbeitswelt

“Wir” müssen weniger arbeiten, auch wenn Friedrich Merz das Gegenteil sagt

“Wir” müssen weniger arbeiten, auch wenn Friedrich Merz das Gegenteil sagt
Friedrich Merz beim Unterzeichnen des Koalitionsvertrages in Deutschland. Foto: Martin Rulsch, CC BY SA 4.0
Immer wieder sagen uns Politiker:innen mit vollem Ernst, dass “wir" mehr arbeiten müssen. Dabei arbeiten “wir” schon über der Belastungsgrenze. Natascha Strobl kommentiert.

Dieses Mal ist es also der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz. Der meint, dass wir “mehr” arbeiten müssen. Dabei zeichnet er ein Bild von satten und vergnügungssüchtigen Arbeitnehmer:innen. Die mögen lieber 4-Tage-Woche und Work-Life-Balance. Der Subtext ist klar: Diesen Faulenzern bringen “wir”  jetzt Disziplin bei. Die lernen jetzt einmal wirklich, was harte Arbeit ist. 

Das ist so falsch wie bösartig. Seit dem Durchbruch des Neoliberalismus setzt sich eine völlig entgrenzte Arbeitskultur durch. Jede Freizeit wird als Betrug aufgefasst. Jedes Nichtstun ist Verrat. Jedes Durchatmen ein Verbrechen. Wer oben sein will, muss ständig arbeiten. 60-Stunden-Arbeitswochen wurden zum Statussymbol und im Feminismus setzte sich das neoliberale Ideal der Girlbosses durch. Jetzt sind es auch die Frauen, die durch 80-Stunden-ständig-Arbeiten reich werden können. Die Realität ist von diesem neoliberalen Fiebertraum natürlich sehr weit entfernt. 

Diese sieht für Deutschland nämlich so aus, dass in Deutschland jedes Jahr 1,3 Milliarden Überstunden geleistet werden. Weit mehr als die Hälfte (nämlich 775 Millionen, also 58%) davon unbezahlt. Die Arbeitnehmer:innen in Deutschland schenken den Arbeitgeber:innen also jedes Jahr einen enormen Betrag, als wäre das eine Spendengala für Bedürftige. Dies geschieht natürlich nicht aus völlig freien Stücken, sondern aus Angst um den Arbeitsplatz. So oder so: Arbeitnehmer:innen leisten hier schon genügend (unfreiwillige) Wohltätigkeitsarbeit für gut betuchte Unternehmer:innen.

Dabei sollten sie das wirklich nicht brauchen. Zwischen 1991 und 2019 stieg die Arbeitsproduktivität um 40%, die Arbeitszeit sank dabei im Schnitt nur um 11% .​ In derselben Zeit stagnieren die Reallöhne bzw. wuchsen nur in geringem Ausmaß.​​

Produktivität steigt, Ausgleich nicht

Die letzte Verkürzung der Wochenarbeitszeit hingegen (die 40-Stunden-Woche) geschah ab den 50ern schrittweise. Das ist nun schon über 70 Jahre her. In einzelnen Branchen mit starker gewerkschaftlicher Organisierung wird nun wieder deutlich die Arbeitszeit verkürzt, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Diese Branchen haben etwas verstanden: Der wichtigste Hebel, um für Arbeitnehmer:innen attraktiv zu sein, ist die Arbeitszeitverkürzung, nicht -verlängerung. Gesetzlich ist man aber am Stand der Mitte des vorherigen Jahrhunderts.

Ab den 80er Jahren hat es Deutschland, sowie alle anderen Länder, mit dem Auseinanderklaffen von Produktivität, Reallöhnen und Arbeitszeit zu tun. Während die Produktivität stark stieg, stagnierten die Löhne und die Arbeitszeit sank nur leicht. Nun möchte Merz hier zu Ungunsten der Arbeitnehmer:innen bei der Arbeitszeit eingreifen und Leute zu längerem Arbeiten zwingen.

Wo ist der Gewinn denn hin?

Wo ist die gestiegene Produktivität eigentlich hin? Bei den Arbeitnehmer:innen ist sie nicht in entsprechendem Ausmaß angekommen. Diese sollen aber nun noch mehr in ein System hineinarbeiten, das ganz offensichtlich nichts für sie tut.

Dabei ist ein Faktor noch gar nicht besprochen worden. Denn auch Leute, die nicht 40-Stunden-Lohnarbeiten, arbeiten weit mehr als 40 Stunden die Woche. Sie verrichten immer Hausarbeit, aber vor allem oft etwa unbezahlte Sorgearbeit. So ist es nicht verwunderlich, dass die Teilzeitquote vor allem bei Müttern von kleinen Kindern und Menschen (mehrheitlich Frauen), die Angehörige pflegen, am größten ist. Deutsche Frauen mit kleinen Kindern arbeiten insgesamt im Schnitt etwa 61 Stunden pro Woche. 48 davon sind aber unbezahlt. Frauen insgesamt arbeiten fast 30 Stunden die Woche unbezahlt, Männer auch fast 21 Stunden.

Wir arbeiten auch Vollzeit, wenns nicht bezahlt wird

Insbesondere Mütter haben also schon mehr als einen Vollzeitjob. Es ist schon dreist, davon zu fantasieren, dass sie am besten auch noch 40 Stunden lohnarbeiten sollen. Wer von diesen Politiker:innen arbeitet denn bei dieser Verantwortung 80 Stunden die Woche mit einem geringen Lohn? Wer möchte sich mit so einer Arbeitsbelastung anhören, dass “wir” jetzt mehr arbeiten müssen? Hier ist völlig die Realität aus dem Blick geraten, um noch das Letzte aus Menschen herauszupressen, die konstant weit über ihrer Belastungsgrenze arbeiten.

Drangsaliert man diese Menschen im Namen von Profit weiter, dann braucht man sich nicht wundern, wenn es irgendwann ordentlich kracht. Den Schaden haben dann aber tatsächlich “wir” alle.

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