Kinder mit psychisch erkrankten Eltern: “Manche sind absolute VorzeigeschülerInnen”
Wie kann Kindern mit psychisch erkrankten Eltern geholfen werden? In Tirol findet dazu gerade das Forschungsprojekt “Village” statt, bei dem diese Frage erstmals wissenschaftlich untersucht wird. Diese Kinder haben nämlich ein hohes Risiko, selbst einmal eine psychische Krankheit zu entwickeln – wurden bislang aber oft übersehen.
MOMENT hat mit Sozialwissenschaftlerin und Projektleiterin Jean Paul über die bisherigen Erkenntnisse gesprochen.
MOMENT: Das Forschungsprojekt “Village” leitet sich vom afrikanischen Sprichwort ab, wonach es ein ganzes Dorf benötigt, um ein Kind groß zu ziehen. Das Motto ihrer Arbeit lautet aber, dass zunächst das Dorf erschaffen werden muss, um ein Kind groß zu ziehen. Wo hapert es beim Dorfbau?
Jean Paul: Das Ludwig Boltzmann Institut wollte neue Forschungsprojekte zum Thema mentale Gesundheit finanzieren. Es wurde mit vielen Menschen aus der Praxis, aber auch mit Betroffenen gesprochen. Und bald stellte sich heraus, dass sich ein riesiges Problemfeld bei Kindern mit psychisch erkrankten Eltern auftut. Sie werden die unsichtbaren Kinder genannt. Denn psychische Krankheiten sind noch immer ein Tabu, Eltern versuchen sie so gut wie möglich zu verbergen. Auch ÄrztInnen oder Verwandte sprechen oft nicht mit Kindern über die Krankheit der Eltern. Kinder werden oft komplett im Dunkeln gelassen und so gibt es auch wenig Unterstützung für sie. Deshalb müssen wir hier erst das Dorf aufbauen – und verstehen, wie ihnen am besten geholfen werden kann.
MOMENT: Warum tun sich denn hier nicht nur die Erwachsenen, sondern auch ExpertInnen so schwer, sich mit den Kindern zu befassen?
Paul: Für ÄrztInnen ist das tatsächlich ein schwieriges Spannungsfeld. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist es wichtig, dass ihre PatientInnen ihnen absolut vertrauen. Ein erster Schritt war es, die ÄrztInnen zu coachen, wie sie am besten PatientInnen auf ihre Elternrolle ansprechen können. Viele Betroffene sind da zuerst verunsichert und haben sofort die Angst, dass ihnen das Kind oder die Kinder abgenommen werden, da diese Fragen nur dazu dienen können, um sie als unfähige oder schlechte Eltern zu enttarnen. So eine Verunsicherung kann das Verhältnis zu den behandelnden ÄrztInnen natürlich nachhaltig zerrütten.
MOMENT: Es geht also im wesentlich darum den psychisch erkrankten Eltern zu vermitteln, dass ihnen und damit auch den Kindern geholfen werden soll?
Paul: Genau. Das ist das wichtigste. Kindesabnahmen sind ja für beide Seiten etwas Traumatisierendes. Das ist wirklich die letzte Notlösung. Es geht uns darum, die Beziehung zwischen dem psychisch erkrankten Elternteil und dem Kind oder den Kindern zu stärken. Wir versuchen den psychisch Erkrankten zu helfen, selbst besser mit ihren Kindern darüber sprechen zu können. Wir haben neben den ÄrztInnen auch andere ExpertInnen, die nicht nur mit den Eltern, sondern natürlich auch mit den Kindern selbst sprechen. Bei kleinen Kindern ist es mehr ein spielerisches Herausfinden, wie ihr Leben aussieht, wie es ihnen geht, was sie mit ihren Eltern unternehmen und was ihnen dabei Spaß macht.
Und dann gibt es Netzwerk-Treffen, bei denen auch andere Personen eingebunden sind, die den Familien nahe stehen und sie unterstützen können. Das können eine Tante, ein Onkel, Großeltern oder LehrerInnen sein. Das Ziel des Netzwerk-Treffens ist es, solche HelferInnen zusammenzubringen und zu klären, welche Aufgaben sie übernehmen können. Beispielsweise, ob die Tante das Kind regelmäßig zum Musikunterricht bringen kann. Das Netzwerk wird so geplant, dass es langfristig Bestand hat. Denn oft hilft es betroffenen Eltern schon, wenn jemand gelegentlich etwas mit ihren Kindern unternimmt und sie entlastet.
Die Corona-Krise dauert nun schon ein Jahr und wir sehen, dass viele nicht mehr können.
MOMENT: Es ist wohl aber für psychisch erkrankte Eltern ein großer Schritt, überhaupt ihre Krankheit anzuerkennen und Hilfe zu suchen. Braucht es da oft Überzeugungsarbeit?
Paul: Wir sind ein Forschungsprojekt und daher müssen einige Bedingungen erfüllt sein, um teilnehmen zu können. Tatsächlich sind es nur psychisch erkrankte Eltern, die bereits eine Diagnose haben und in ärztlicher Behandlung sind. Das ist wichtig, denn sonst könnte unsere Arbeit das Gegenteil bewirken und die Menschen erst recht destabilisieren.
In den vergangenen Wochen und Monaten melden sich aber viel mehr Betroffene bei uns. Die Corona-Krise dauert nun schon ein Jahr und wir sehen, dass viele nicht mehr können. Die zahlreichen Belastungen mit Homeschooling und Homeoffice sind bei allen Familien hoch – für psychisch erkrankte Eltern ist das natürlich umso mehr Herausforderung.
MOMENT: Haben Kinder von psychisch erkrankten Eltern ein erhöhtes Risiko, selbst einmal psychisch krank zu werden?
Paul: Ja, das ist in der Forschung bereits gut beschrieben. Es müssen aber nicht zwangsläufig die Erkrankungen sein, die ihre Eltern haben. Wenn etwa der Vater oder die Mutter eine bipolare Störung hat, oder manisch-depressiv ist und oft grundlos herumschreit oder aggressives Verhalten zeigt, so können die Kinder dann etwa eine Angststörung entwickeln. Deshalb ist es umso wichtiger, dass diesen Familien bestmöglich geholfen wird.
MOMENT: Müssten nicht auch KindergartenpädagogInnen oder LehrerInnen besser sensibilisiert werden?
Paul: Psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabu und ich würde gerne eine Sensibilisierungskampagne und Schulprojekte starten. Der Nachteil hierbei wäre allerdings, dass Kinder dann erst recht wieder von Fremden etwas über die Krankheit ihrer Eltern erfahren – und nicht von ihnen selbst.
Auch ist es ein Irrtum zu glauben, dass Kinder von psychisch erkrankten Eltern in der Schule besondere Probleme haben und herausstechen. Oft ist das Gegenteil der Fall. Einige verbringen enorm viel Zeit mit Lernen und kompensieren so die Probleme zu Hause und sind absolute VorzeigeschülerInnen.
Viele dieser Kinder haben eine hohe soziale Intelligenz und sehr selbstständig.
MOMENT: Das heißt, für die LehrerInnen ist es oft unmöglich zu erkennen, was zu Hause los ist?
Paul: Ja. Aber ein weiterer Irrtum ist es zu glauben, dass alle Kinder mit psychisch erkrankten Eltern Probleme entwickeln. Manche gehen sehr gut damit um und es bilden sich sogar Stärken heraus. Viele dieser Kinder haben eine hohe soziale Intelligenz und sehr selbstständig, sie reagieren äußerst sensibel auf ihre Umwelt, weil sie ja auch lernen mussten, das Verhalten des erkrankten Elternteils schnell zu deuten.
Es trifft auch nicht alle Kinder gleichermaßen. Ältere Geschwister müssen oft früh die Elternrolle übernehmen und sich um die Kleineren kümmern, die ihrerseits von der Erkrankung des Elternteils fast nichts mitbekommen, weil der Bruder oder die Schwester hier viel abfedert.
Wir wollen ebenfalls untersuchen, welche Kinder gut mit der Erkrankung umgehen und was wir daraus lernen können. Wir führen dazu auch viele Gespräche mit Erwachsenen, die mit psychisch erkrankten Eltern aufgewachsen sind. Das ist sehr hilfreich.
MOMENT: Mit welchen Problemen kämpfen diese Erwachsenen heute?
Paul: Das ist sehr unterschiedlich. Viele haben etwa Schuldgefühle, weil sie immer dachten, dass sie durch ihr Verhalten bewirkt haben, dass es ihren Eltern schlecht geht.
Deshalb ist es ebenso wichtig, die psychisch erkrankten Eltern zu unterstützen, dass sie ihren Kindern selbst erklären können, was mit ihnen los ist. Obwohl unser Forschungsprojekt noch mindestens ein Jahr läuft und aufgrund von Corona eventuell verlängert wird, haben wir bereits sehr viele positive Rückmeldungen: Eine Mutter, die gerade auf Rehabilitation ist, hat uns einen langen Brief geschrieben, dass sich die Beziehung zu ihren Kindern absolut verbessert hat, weil sie nun endlich weiß, wie sie am besten mit ihnen über ihre Krankheit sprechen kann und ihre Kinder sie nun viel besser verstehen.
MOMENT: In Österreich gibt es eklatante Versorgungslücken im Gesundheitssystem, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Bemerken Sie diese in ihrer Arbeit?
Paul: Ja, das ist ein Problem. Wir erhalten viele Anrufe von Ärztinnen, die uns davon berichten, welche langen Wartezeiten es auf kassenfinanzierte Therapieplätze gibt und dass sie so froh sind, dass es unser Projekt gibt und hier Familien kostenlos geholfen wird. Viele Angebote müssen privat bezahlt werden, aber oft haben genau die Familien, die am dringendsten Hilfe brauchen, auch finanzielle Nöte.