NEOS: Von moralischen Musterschüler:innen zu verantwortungslosen Zerstörer:innen
NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger hat selbst dargelegt, woran die Koalitionsverhandlungen gescheitert sind: Die „Lohnerhöhung“ für Beamt:innen und das Pensionsalter. Man muss sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, dass für die NEOS die Krankenpflegerin und der Polizist das Problem sind. Weil sie einen Inflationsausgleich bekommen haben und nicht bis 67 arbeiten sollen, verweigern die Liberalen die Regierung und machen den Weg für Rechtsextreme frei.
Autoritäre Versuchung
Die Welt ist im Dauerkrisenmodus. Überall lauern autoritäre Versuchungen. Die liberalen Mini-Parteien Europas präsentieren sich als Stütze der Freiheit, der individuellen Rechte und der Verantwortung. In Österreich hätte so eine Kleinstpartei nun die Möglichkeit gehabt, reale Verantwortung zu übernehmen, nur um monatelang Zeit zu vergeuden und dann die Verhandlungen platzen zu lassen.
Der Stunt erinnert an die FDP in Deutschland. Was sind das für Menschen, die die Selbstdemontage Christian Lindners gesehen und sich gedacht haben, dass man sich diesen smarten Teufelskerl als politisches Vorbild nimmt? Nun, diese Menschen sitzen offenbar pink gekleidet in Österreich.
Pensionsantrittsalter erhöhen oder Pensionen kürzen?
Dabei wiederholen sie längst enttarnte Lügen. Das Pensionsantrittsalter regelt etwa für die meisten Menschen nicht den Antritt der Pension, sondern die Pensionshöhe. Etwa ein Drittel der Menschen geht arbeitslos in Pension. Ein Neuntel der Menschen geht krank in Pension. Von den arbeitslosen Menschen können die meisten auch nicht mehr in den Arbeitsmarkt einsteigen, weil sie krank sind oder Betreuungspflichten haben. Und die Zahl der pflegenden Angehörigen wird in den nächsten Jahren stark steigen.
Die NEOS handeln hier also an der Realität vorbei. Viel wichtiger wäre es, das faktische Pensionsalter anzuheben, also sicherzustellen, dass die Menschen das jetzige Pensionsalter überhaupt erreichen. Ist jemand mit 61 krank oder arbeitslos, ändert ein theoretisch höheres Pensionsalter (fast) nichts. Man ist weiter krank oder arbeitslos. Das einzige, was sich ändert, ist die Pensionshöhe.
Will man das Pensionsalter ändern, müsste man also das faktische Alter in den Fokus nehmen. Tut man das nicht, kürzt man nur die Pensionen. Die NEOS wissen das wohl auch. Ebenso, dass von diesen Pensionskürzungen, wenige überraschend, vor allem Geringverdiener:innen und Frauen betroffen sind. Auch das bedeutet eine dramatische Umverteilung von unten nach oben.
Elend wird zur Privatsache
Generationengerechtigkeit, ein seltsames PR-Agentur-Schlagwort, wird so nicht hergestellt. Vielmehr wird die Abwehr allen Elends zur Familienangelegenheit gemacht. Frauen mittleren Alters müssen dann nicht nur ihre kleinen Kinder versorgen, sondern auch die Eltern pflegen und Vollzeit arbeiten, damit alle finanziell halbwegs versorgt sind. Zum Dank dürfen auch sie mit 67 in Pension gehen.
Die Lebenshaltungskosten steigen weiter, die Schulplätze werden knapp und als Sündenbock werden dann irgendwelche Minderheiten präsentiert.
Gehaltskürzungen für Lehrer:innen und Co.
Ebenfalls stoßen die NEOS bei den Koalitionsverhandlungen daran, dass “Beamte” einen Lohnabschluss über zwei Jahre bekommen haben. Die meisten dieser “Beamten” sind längst Vertragsbedienstete. Sehr viele arbeiten in Jobs, die die Gesellschaft am Laufen halten.
Spitzenköche, Unternehmensberater und Startup-Gründer können sich das schwer vorstellen, aber Lehrer:innen, Krankenpfleger:innen usw. braucht es wirklich. Ein Staat tut gut daran, diese Berufsgruppen genau als das zu behandeln, was sie sind: die wahren Leistungsträger:innen.
Im Gegensatz könnte man bei eingebildeten Leistungsträger:innen, wie den aktuellen Pleite-Unternehmern, sicher viel sparen. Die NEOS haben sich aber auf Lehrer:innen und Polizist:innen eingeschossen und fordern auch von ihnen eine Kürzung des Gehalts. Wird die Inflation nicht ausgeglichen, ist das nichts anderes als eine Gehaltskürzung. Im Endeffekt mag man arbeitende Menschen dann doch weniger als die autoritäre Rechte.
Javier Milei als Vorbild: Der Liberalismus rückt nach rechts
Das ist die neue Qualität des Klassenkampfs von oben, an dessen Speerspitze sich die autoritären Liberalen setzen. Das ehrwürdige Ideal ist nicht mehr das bessere Argument, sondern die Kettensäge. Das große Vorbild ist Javier Milei in Argentinien. Erste Ansätze dazu sind auch schon bei den NEOS zu finden, bei der deutschen FDP sowieso.
Die Idee ist, dass man den Staat durch Schocks sanieren muss. Naomi Klein hat das schon vor vielen Jahren beschrieben. Erstmal die Hälfte der Bevölkerung in bittere Armut stürzen und dann schauen, wer das übersteht. Das ist kein neues Konzept, sondern die Grundidee des Neoliberalismus. Und das Resultat war immer dasselbe: Wenige Leute sind sehr, sehr reich geworden, weil das allgemeine Vermögen privatisiert wurde. Der Staat wurde ausgeräumt. Alles, was von einer stabilen vermeintlichen Mittelschicht übrig war, wurde abgeräumt. Für viele bedeutet es ein Leben in Armut.
Diese Art der Politik wird nun mit autoritärer Gesellschaftspolitik verbunden. Am Elend sind dann die geringen Geburtenraten (also Frauen), Schwangerschaftsabbrüche (also Frauen), trans Personen oder der Veggie-Day in der Kantine schuld.
Freiheit gilt halt nur wirtschaftlich für Reiche, aber nicht gesellschaftspolitisch für Minderheiten.
Der autoritäre Liberalismus als Steigbügelhalter der extremen Rechten
Dass sich Beate Meinl-Reisinger mit langen, ausschweifenden Worten hinstellt und Mühe hat, zum Punkt zu kommen, zeigt: Man ist sich selbst sehr bewusst, wie unpopulär die reale Politik der NEOS ist. Man versteckt sich hinter Buzzwords wie Freiheit oder irgendwas mit “neu”. Ehrlicher wäre es, “Pensions- und Gehaltskürzungen” aufs Plakat zu schreiben und dann die Wähler:innen entscheiden zu lassen. Aber dafür ist man dann doch zu feige.
Nachdem die NEOS die Koalitionsverhandlungen haben platzen lassen kann nun also doch noch die FPÖ an die Macht kommen. Das dürfte den NEOS vielleicht sogar recht sein, ist man wirtschaftspolitisch doch ziemlich ident. Mehr Einfluss von Putin in Europa kann man offenbar auch verschmerzen. Der klassische Liberalismus hätte sich allein aus diesem Grund nicht aus der Verantwortung gestohlen. Der Milei-Flügel kann auch damit gut leben, wenn es bedeutet, dass der Sozialstaat mit der Kettensäge zerstört wird.
FPÖ-ÖVP würde wirtschaftspolitisch NEOS-Politik machen und das kann man im Milei-Flügel auch als Sieg verbuchen. Der autoritäre Liberalismus ist zum Steigbügelhalter der extremen Rechten verkommen. Alle anderen müssen sich auf die grausamste Welle des Klassenkampfs von oben seit 100 Jahren einstellen.