Pleite von Pierers KTM: Fatale Fehler und Schweigen über die Schieflage
War es einfach Unwissenheit, krasse Realitätsverweigerung oder glatte Lüge? Nur Stunden bevor KTM vergangene Woche die Pleite meldete, traf sich Konzernboss Stefan Pierer mit den Bürgermeistern der drei “KTM-Gemeinden” Mattighofen, Munderfing und Schalchen im oberösterreichischen Bezirk Braunau.
Aber: Von einer unmittelbar bevorstehenden Pleite sei nicht die Rede gewesen, berichtet Mattighofens Bürgermeister Daniel Lang gegenüber MOMENT.at. Natürlich ging es um die Lage bei KTM und gut sah es nicht aus. Pierer habe das in Worten ausgedrückt, die zu seinen Produkten passen: Von einem gezwungenen Boxenstopp habe er gesprochen. Davon, dass jetzt der Tank aufgeladen werden muss. “Und dass man jetzt quasi Ballast abschütteln muss und dann ab März wieder durchstarten kann”, sagt Lang.
Pierer vor KTM-Pleite: Arbeitsplätze seien gesichert
Sein Amtskollege Martin Voggenberger aus der Nachbargemeinde Munderfing bestätigt diese Wahrnehmung. “Erst im Nachhinein habe ich erfahren, dass es sehr wohl um die Insolvenz ging”, sagt er zu MOMENT.at über das Gespräch mit dem KTM-Boss am Dienstag vergangener Woche. Die Konzernmutter Pierer Mobility meldete kurz darauf: Die KTM AG und zwei weitere Tochterfirmen sind zahlungsunfähig – MOMENT.at berichtete darüber.
“Das war so: Bumm! Von heute auf morgen”, sagt Voggenberger. Warum aber zeichnete Pierer den drei Gemeindevorstehern kurz vor der Pleite noch ein anderes Bild der Lage? “Ob er es da schon gewusst hat, davon bin ich nicht überzeugt”, sagt Voggenberger. Mattighofens Bürgermeister Lang erklärt es so: “Es hat sicher Kommunikationsprobleme innerhalb des Managements und der Führungsebene gegeben.” Mit der Folge, “dass man sich gar nicht so bewusst war, welche Größenordnung das jetzt hat”. Seit Dienstag vergangener Woche seien ja auch die Zahlen darüber, wie viele Schulden auf KTM drücken, “von Tag zu Tag erhöht worden”, sagt Lang.
Bei dem Treffen mit Pierer habe Lang den KTM-Chef direkt gefragt, wie viele Arbeitsplätze von dem “gezwungenen Boxenstopp” jetzt betroffen sein werden. “Bei diesem Gespräch hat er uns vermittelt, dass es um 300 Mitarbeiter geht”, sagt er. Und: “Von Herrn Pierer ist noch sehr viel Zuversicht vermittelt worden.” Auch mit der Belegschaft in Mattighofen habe Pierer gesprochen. Dabei sei “den Mitarbeiter:innen noch versichert worden, dass die Arbeitsplätze gesichert sind”, sagt Lang. “Das muss jetzt wahrscheinlich revidiert werden.”
Denn nur Stunden später war klar: Bei KTM ist nichts gesichert. Und es geht auch nicht um einige hundert Kündigungen, die ausgesprochen werden müssen. Es geht um die Existenz des ganzen Unternehmens. Was der jetzt in die Insolvenz gegangene Motorradhersteller für die Menschen hier bedeutet, kann kaum unterschätzt werden. “KTM ist einfach der Leitbetrieb für die Region”, sagt Mattighofens Bürgermeister Lang.
Schuldenstand bei KTM: zwei Milliarden Euro
Die Zahlen sind erschreckend: Laut den Insolvenzanträgen der drei betroffenen Unternehmen geht es um Schulden in Höhe von knapp 2 Milliarden Euro. Allein die KTM AG in Mattighofen hat 1,824 Milliarden Euro Schulden angehäuft. Im Hauptwerk sind 2.380 Beschäftigte von der Pleite betroffen. Bei der ebenfalls insolventen Forschungs & Entwicklungs GmbH geht es um 765 Arbeitnehmer:innen. Die in Munderfing sitzende KTM Components GmbH hatte zuletzt 478 Dienstnehmer:innen.
Insgesamt betroffen sind also 3.990 Beschäftigte. Der Zeitpunkt der Pleite kurz vor dem Zahltag Ende November hat für sie drastische Folgen: Sie erhielten ihre Löhne und Gehälter für November nicht ausgezahlt und auch kein Weihnachtsgeld von KTM.
Dafür springt jetzt der Insolvenz-Entgelt-Fonds ein. Dorthin überweisen Österreichs Unternehmen 0,1 Prozent der gesamten Lohnsumme ihrer Arbeitnehmer:innen. Die ausstehende Bezahlung der KTM-Beschäftigten ist damit gesichert. Nur kommt sie verspätet und nicht mehr vom Konzern von Stefan Pierer – sondern praktisch aus den Löhnen und Gehältern aller Arbeitnehmer:innen.
Drei insolvente KTM-Firmen, zwei ausstehende Gehälter und ein Weihnachten in Ungewissheit darüber, ob es den Arbeitsplatz im neuen Jahr noch geben wird. Kann es aus Sicht der Beschäftigten einen schlechteren Zeitpunkt für eine Insolvenz geben? “Einen geeigneten Zeitpunkt gibt es wahrscheinlich nie”, sagt Mattighofens Bürgermeister Lang. “Aber so kurz vor Weihnachten ist es vor allem moralisch ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt.”
Dass bei KTM in diesem Jahr nicht alles rund lief, habe er schon gemerkt. An den Einnahmen aus der Kommunalsteuer etwa. Die seien zuletzt gesunken. Mitte des Jahres habe Pierer den Gemeinden gesagt, der Herbst werde schwierig. “Dass es dann einschlägt wie eine Bombe, war für uns nicht absehbar”, sagt Munderfings ÖVP-Bürgermeister Voggenberger. Er spricht von rund 2.000 Arbeitsplätzen, die allein in seiner Gemeinde an KTM hängen, inklusive Zuliefererfirmen und Nahversorgung.
Die Stimmung in der Gemeinde mit 3.000 Einwohnern “ist natürlich getrübt. Jeder spricht darüber”. Und alle würden Fragen stellen, Voggenberger zählt einige auf: “Wie kann denn das passieren? Wie kann man das nicht vorher merken? Und warum passiert so etwas gerade einem Menschen wie Stefan Pierer, der so viel aufgebaut hat?”
KTM hat für Wachstum mehr Schulden gemacht
Das Momentum Institut schaute sich die Bilanzen und Jahresabschlüsse der beteiligten Unternehmen an: Von der Pierer Industrie AG über Pierer Mobility bis zu den drei insolventen KTM-Unternehmen. In der Analyse fiel auf: Im Jahr 2023 wurden bei KTM zu den schon bestehenden Schulden offenbar zusätzliche Anleihen in Höhe von 50 Millionen Euro und zusätzliche Bankverbindlichkeiten in Höhe von 420 Millionen Euro aufgenommen. Diese Zahlen weisen darauf hin, dass man bei KTM noch 2023 von wachsendem Umsatz und mehr verkauften Motorrädern ausging – und dieses Wachstum fremdfinanzieren wollte.
Die Analyse sieht darin einen entscheidenden Planungsfehler: Statt weiter zu wachsen, kam es “ab diesem Zeitpunkt zu einem – tatsächlich sehr bemerkenswerten – Umsatzeinbruch”. Und: Bis weit ins Jahr 2024 seien weitere Fehler gemacht worden. Die Entwicklungen dieses Jahres wurden vom KTM-Management “gröblich unterschätzt bis quasi negiert”.
Es herrscht großer Unmut, dass diese Dividenden ausbezahlt worden sind und die Mitarbeiter jetzt nicht wissen, wie es weitergeht.
Noch im August habe der KTM-Vorstand “rückblickend recht unrealistische Gesamtjahreserwartungen” veröffentlicht. Zeit verstrich ungenutzt, in der das Unternehmen hätte gegensteuern können. “Dies hätte möglicherweise auch schon Personalabbau bedeutet – aber wohl sozial verträglicher und mit weniger Schaden für Gläubiger:innen”, so das Momentum Institut. Allein bei der Pleite der KTM AG stehen 1.624 betroffene Gläubiger:innen mit offenen Forderungen an.
Im Jahr 2023 erzielte die KTM AG laut Bilanz ein operatives Ergebnis von 26 Millionen Euro. Im Vergleich zum gesamten Umsatz in Höhe von 2 Milliarden Euro war das eher wenig. Durch zufließende Gewinne von Tochterunternehmen stand unter dem Strich ein Plus von 88 Millionen Euro. Die Zahlungen für Zinsen aus Verbindlichkeiten vervierfachten sich von 7 auf 31 Millionen Euro.
Millionen an Dividenden im Jahr der Pleite
KTM kündigte schon im Dezember 2023 die ersten Stellenstreichungen an, weitere folgten im Laufe des Jahres. Dennoch zahlte die KTM AG noch im laufenden Jahr 10,7 Millionen Euro Dividenden an Anteilseigner:innen aus. Die börsennotierte Konzernmutter Pierer Mobility, deren Umsätze zu 95 Prozent von KTM beigesteuert werden, zahlte heuer rund 17 Millionen Euro Dividenden an Aktionär:innen aus. Und machte gleichzeitig im ersten Halbjahr 2024 einem Verlust von 172 Millionen Euro.
Erst Millionen an Dividenden und wenig später kracht das ganze Unternehmen? In der 7.600 Einwohner zählenden Stadt Mattighofen kommt das nicht gut an. “Natürlich wird das sehr kritisch gesehen in der Bevölkerung”, sagt der ÖVP-Bürgermeister Daniel Lang. “Es herrscht großer Unmut, dass diese Dividenden ausbezahlt worden sind und die Mitarbeiter jetzt nicht wissen, wie es weitergeht”.
Von den Dividenden profitierte auch Konzernchef Pierer persönlich. In seiner Analyse der Unternehmensdaten kommt das Momentum Institut zum Schluss: “Seriös kann gesagt werden, dass Stefan Pierer selbst in den letzten 10 Jahren 127 Millionen Euro, davon 87 Millionen Euro in den letzten fünf Jahren, aus seiner Industrieholding in andere Unternehmen in seinem Eigentum überführt hat.” Es sei allerdings festzuhalten: Dabei handelte es sich nicht um Geldauszahlungen und sie wurden nicht an Pierer persönlich ausgeschüttet.
Personalkosten bei KTM nicht einmal bei 10 Prozent
Dazu ist Pierer nicht nur Geschäftsführer der KTM AG und von Pierer Mobility. Sondern er ist Vorstand oder Geschäftsführer von 13 weiteren Unternehmen in seinem verschachtelten Firmenreich und erhält hier mutmaßlich Geschäftsführerbezüge. Allein für seine Arbeit als Vorstand der Pierer Mobility erhielt er seit 2019 fast 9 Millionen Euro an Bezügen. Möglich machten das großzügige Bonuszahlungen in den erfolgreichen Jahren bis Ende 2023.
Die sind jetzt augenscheinlich vorbei. Pierer, der auch Präsident der oberösterreichischen Industriellenvereinigung ist, wies immer wieder auf den vermeintlichen Zusammenhang hin: Hohe Personalkosten und steigende Lohnabschlüsse für die Beschäftigten würden Unternehmen wie KTM in Schwierigkeiten bringen.
Doch die Analyse der Unternehmensdaten zeigt: Die Personalkosten machten bei der KTM AG zuletzt nicht einmal 10 Prozent des Gesamtumsatzes aus. Bevor die Forschungsabteilung und das Motorsportgeschäft 2021 ausgegliedert wurden, waren es 14 Prozent. Beides sind für die österreichische Metallindustrie unterdurchschnittliche Werte. Der Schnitt liegt bei 16 bis 20 Prozent Anteil des Personalaufwands am Umsatz.
Sparen bei den Personalkosten hätte somit eher wenig Auswirkungen darauf gehabt, KTM zahlungsfähig zu halten. Und: Die oftmals von Stefan Pierer geforderte Senkung von Lohnnebenkosten hätte „allenfalls einen positiven Einfluss auf die Gewinne und Dividenden gehabt, aber sicher keine Probleme verhindert“, heißt es in der Analyse.