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Demokratie
Klimakrise

Protestcamp gegen Stadtstraße: Wien droht Kindern mit Millionenklage – und erntet Zorn

Die Stadt Wien bekämpft das Protestcamp gegen die Stadtstraße mit Klagsdrohungen, auch an minderjährige Aktivist:innen. Es geht um Millionen und letzte Chancen, etwas gegen die Klimakatastrophe zu tun.

 
Seit Monaten besetzen Aktivist:innen die Baustelle für die Stadtstraße in Wien. Die Stadt möchte das Protestcamp weghaben und macht jetzt Ernst: Mit Dutzenden Klagsdrohungen, verschickt auch an Minderjährige. Es geht um Millionen. Für die Menschen, die hier den Bau der vierspurigen Straße bisher verhindern, geht es um mehr: Es ist eine der letzten Möglichkeiten, aktiv etwas gegen die Klimakatastrophe zu tun.

 

Der Weg in das Camp der Protestierenden führt durch Schlamm, Pfützen und über glitschige Steine. Holzbaracken stehen auf dem Feld, das einmal von der vierspurigen Stadtstraße Aspern geschluckt werden soll – zumindest wenn es nach der Stadt Wien geht.

Doch seit Monaten besetzen Aktivist:innen die Baustelle. Die Schneeschmelze der vergangenen Tage hat die Fläche neben dem U-Bahnhof Hausfeldstraße in Wien-Donaustadt in einen Morast verwandelt. Trotz Tauwetter: Saukalt ist es noch immer.

Zum Spaß ist keiner hier im Protestcamp gegen die Stadtstraße

“Es ist schon echt kalt. Wir sind fast erfroren sozusagen”, sagt die Aktivistin Lisa zu MOMENT. Sie ist eine der Personen, die hier regelmäßig übernachten. In Folien gehüllt, bibberte sie sich mit anderen in kleinen Zelten und Hütten durch die Nächte. Der Morast, die Kälte, die Baracken. Wer sich im Camp umschaut, merkt schnell: So richtig Spaß kann das nicht machen, hier monatelang auszuharren.

Rund 30 Personen sind trotzdem hier. Für sie ist der Kampf gegen die Stadtstraße ein Kampf für klimafreundliche Mobilität. Und die liegt für sie nicht im Herumfahren im privaten Auto, sondern vor allem im öffentlichen Verkehr. Die Generation der jungen Aktivist:innen hier wird die Folgen der Klimakatastrophe selbst spüren.

Die heute lebenden Generationen, ob jung oder alt, sind wohl die letzten, die noch aktiv etwas dafür tun kann, in Sachen Klimakrise das Schlimmste zu verhindern. Heute eine weitere vierspurige Straße in die Landschaft zu bauen, stellt Weichen für mindestens die nächsten 60 Jahre.

Es geht nicht darum, sich mal eben vor einen Bagger zu setzen. Es geht um viel mehr als das.
Lena Schilling, Jugendrat

Es wäre eine Absage an eine ökologische Verkehrswende. Es würde die derzeitigen Verhältnisse im wahrsten Sinne des Wortes einbetonieren. Mehr Straßen haben bisher immer bedeutet: mehr Autoverkehr. Und das heißt: noch mehr klimaschädliche Treibhausgase statt weniger. Der Kampf gegen die Stadtstraße ist für die Aktivist:innen auch der Kampf für klimafreundliche Mobilität.

 
Die treibhausgasemssionen sind seit 1990 um 75% gestiegen.

“Das ist ein Kampf, den wir gesellschaftlich gewinnen müssen”, sagt Lena Schilling zu MOMENT. Die Aktivistin vom Jugendrat ist inzwischen das Gesicht des Widerstands gegen das 3,2 Kilometer lange Asphaltband, das 460 Millionen Euro kosten soll. “Es geht nicht darum, sich mal eben vor einen Bagger zu setzen. Es geht um viel mehr als das”, sagt Schilling.

Stadt Wien macht jetzt Ernst – und schickt Klagsdrohungen an Kinder

Abgesehen von vielen – man kann es wohl so sagen – Eingesessenen, sind an diesem Montag auch Leute zum ersten Mal im Protestcamp. Mittendrin stehen Anna und Niko. “Ich will mir selbst anschauen, was hier passiert und mit den Leuten sprechen”, sagt Niko zu MOMENT. In den vergangenen Tagen habe er wieder viel gelesen über das Camp.

Denn die Stadt Wien macht jetzt Ernst und will das Protestcamp weghaben. Sie schickte Briefe an Dutzende Personen und drohte darin, die Aktivist:innen zu klagen, sollten sie die Baustelle nicht räumen. Die Anwaltskanzlei Jarolim schickte sogar Briefe an zwei Kinder im Alter von 13 und 14 Jahren.

“Das ist nicht in Ordnung, 13-Jährigen solche Briefe zu schicken”, sagt Anna. “Das ist einfach nur ein Schuss nach hinten.” Die SPÖ-geführte Wiener Stadtregierung hat sich auf dem Feld, das mal die Stadtstraße werden soll, keine neuen Freund:innen gemacht. Was sie zur Haltung der SPÖ in Sachen Stadtstraße sagen? Die jungen Leute schütteln den Kopf und lachen ein bitteres Lachen.

Am ersten Tag mehr als 10.000 Unterschriften gegen die Klagsdrohung

Lena Schilling ist vor allem sauer. Natürlich hat auch sie den Brief mit der Klagsdrohung erhalten. Was für sie schwerer wiegt: “Ein 13-jähriges Mädchen hat mich heulend angerufen, dass die Stadt sie klagen wolle”, sagt sie zu MOMENT. Über das Wochenende habe sie das Mädchen und deren Eltern zu beruhigen versucht. Daneben musste sie Kontakt zu Anwält:innen aufbauen.

Und gemeinsam mit den Organisationen Fridays for Future, Extinction Rebellion und System Change not Climate Change, startete sie eine Online-Petition an Wiens Bürgermeister Michael Ludwig. Sie fordern: Keine Klage gegen Klima-Aktivist:innen. Am Montagabend hatten mehr als 10.000 Menschen unterschrieben.

“Ich habe kein Verständnis dafür, dass man wahllos Aktivist:innen angreift”, sagt Schilling. Die beiden Kinder hätten nichts getan, etwa keine Demo angemeldet. Schilling fragt sich, wie die Stadt überhaupt an deren Kontaktadressen gekommen ist. “Das war ein Rundumschlag. Offenbar haben sie einfach Twitter gescannt und irgendwelche Leute angeschrieben”, sagt sie.

Wir bedauern, wenn Minderjährige betroffen sind, fordern sie aber auf, die Besetzung zu beenden.
Anita Voraberg, Sprecherin von Stadträtin Ulli Sima

Auf Anfrage von MOMENT, warum die Stadt Wien Anwaltsschreiben an Minderjährige schicken lässt, in denen mit Klage gedroht wird, antwortet Anita Voraberger, Sprecherin der zuständigen Stadträtin Ulli Sima: “Wir bedauern, wenn auch Minderjährige betroffen sind, fordern aber auch diese auf, die Besetzung zu beenden.”

 
Protestcamp gegen den Bau der Stadtstraße in Wien.

Das Protestcamp gegen den Bau der Stadtstraße Aspern in Wien. // Foto: A. Bachmann

Stadt Wien droht, alle entstandenen Schäden von Aktivist:innen einzuklagen

Das Anwaltsschreiben liegt MOMENT vor. Darin wird argumentiert, warum es die Stadtstraße unbedingt brauche. Und daraufhin gedroht: “Sofern die Behinderung der Bauführung nicht umgehend und vollständig beendet wird, ist die Stadt Wien gezwungen, sämtliche ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Schritte einzuleiten, um die entstandenen Schäden einzufordern.”

Das Vorgehen ist für Lena Schilling nicht nachvollziehbar. “Es ist weder ein Zeitraum genannt, bis wann die Besetzung beendet werden soll, noch eine Schadenssumme”, sagt sie. Die Stadt geht nicht auf die Frage ein, bis wann die Aktivist:innen die Baustelle verlassen müssen, bevor aus der Klagsdrohung eine Klage wird.

Ob eine polizeiliche Räumung weiterhin ausgeschlossen wird? Kein Kommentar. Dagegen heißt es aus dem Rathaus, dass zahlreiche Beschwerden von Anwohner:innen über das Protestcamp eingegangen seien: Über Verunreinigungen, nächtlichen Lärm und illegale Veranstaltungen sei geklagt worden.

Wie viele Beschwerden konkret eingingen, lässt Sprecherin Voraberger unbeantwortet. Ebenso will die Stadt nicht verraten, wie viele Schreiben von Bürger:innen in ihrem Postkasten landeten, die die Proteste gegen die Stadtstraße unterstützen und einen Baustopp fordern.

22 Millionen Euro soll der Baustopp bisher angeblich gekostet haben

Wird die Klage Realität, kann es ungemütlich werden für Schilling und die rund 50 anderen per Anwaltsschreiben bedrohten Personen. Medien berichteten von geschätzt angeblich 22 Millionen Euro, die der Baustopp bisher gekostet haben soll. Ein Betrag, der nicht zu stemmen wäre von den Aktivist:innen und erst recht nicht von einer einzelnen 20-jährigen Person wie Schilling.

Stimmt diese jetzt im Raum stehende Klagssumme und wie kommt sie zustande? Offizielle Zahlen gibt die Stadt nicht heraus. “Schadenssummen können noch nicht beziffert werden”, sagt Sprecherin Voraberger auf Anfrage von MOMENT. Angesichts der von der Stadt Wien errichteten Drohkulisse, handle sie jetzt vorsichtig, sagt Schilling. So steht sie an diesem Montag nur am Rand des Protestcamps und betritt es nicht.

Auf ihrem Standpunkt beharrt sie weiterhin. Und der lautet: “Dieses Projekt ist sinnlos, nach der Absage des Lobautunnels erst recht. Die Stadt hat seit Jahren Konzepte in der Schublade liegen, wie man die Donaustadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschließen kann.” Sie nennt: Die Straßenbahnlinien ausbauen, die U6 verlängern und die S-Bahnlinie 80 ausbauen.

“Wenn Michael Ludwig gute Ratschläge braucht, ich hab da ein paar, und er könnte auch mal in seinem Programm nachschauen”, sagt Schilling. An die Wiener SPÖ appelliert sie: “Man kann Fehler eingestehen. Man kann Schritte zurück machen.” Das wäre “keine Schwäche, sondern Stärke.”

 

 

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