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Gesundheit

1-4-7-Beraterin bei Rat auf Draht: „Eltern wollen oft helfen, hören aber nicht genau hin“

1-4-7-Beraterin bei Rat auf Draht: „Eltern wollen oft helfen, hören aber nicht genau hin“
Rat auf Draht: Bei der Hotline 1-4-7 für Kinder und Jugendliche ist Christine Pirwie seit 6 Jahren am Telefon.
Sozialpädagogin Christine Piriwe arbeitet seit 6 Jahren beim Rat auf Draht, Österreichs telefonischer Beratung für Kinder und Jugendliche. MOMENT.at erklärt sie, was junge Menschen seit der Pandemie belastet, warum Chat-Beratung ein Gamechanger ist und wie Eltern ihre Kinder besser verstehen können.

MOMENT.at: Frau Piriwe, Sie sitzen seit 6 Jahren bei 1-4-7 am anderen Ende der Leitung, wenn Kinder und Jugendliche anrufen. Was beschäftigt die Kids heutzutage?

Christine Piriwe: Zum einen das Alltägliche der Lebenswelt eines heranwachsenden Menschen. Sie fragen sich: wer bin ich, wo möchte ich hin, was macht mich aus? Es geht um den Abnabelungsprozess vom Elternhaus, den wir alle einmal durchgemacht haben. Auf der anderen Seite haben sich die Krisen unserer Zeit bei Ihnen eingeprägt. Es häufen sich Fragen über die eigene Zukunft, die Kriege und die Klimakrise. Als Resultat daraus beschäftigen sie sich auch mehr mit ihrer psychischen Gesundheit.

MOMENT.at: Haben Pandemie, Krieg und Klimakrise die psychische Gesundheit von Jugendlichen verschlechtert?

Pirwie: Stark angestiegen sind Schlafstörungen und Angstzustände, aber leider auch Essstörungen, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Wir sprechen aktuell mit vier Jugendlichen am Tag über suizidale Gedanken. Im Jahr sind es über 100 mehr als noch vor Corona. Die Kinder spüren einen hohen Leidensdruck. Oft heißt es „Ich kann nicht mehr, ich weiß nicht wie es weitergehen soll und ich brauche dringend Hilfe“. Früher ging es mehr um Themen wie Aufklärung, um Sexualität. Da wissen sie heutzutage bestens Bescheid. Aber psychische Gesundheit, das ist in Familien oft noch ein Tabuthema. 

MOMENT.at: Laufen die Leitungen dementsprechend heißer als früher?

Pirwie: Die Gespräche sind spürbar länger, emotionaler und intensiver geworden. Es kommt nunmal zu mehr Krisen- statt einfachen Informationsgesprächen. Früher war es noch eine Seltenheit, dass wir mit Polizei und Rettung intervenieren mussten, heute ist das nicht unüblich. 

MOMENT.at: Glauben Sie, dass es Jugendlichen heute psychisch schlechter geht als vor den “Krisenzeiten”, oder liegt das vielleicht daran, dass mehr Jugendliche offen über psychische Gesundheit sprechen?

Pirwie: Ich glaube nicht, dass Jugendliche früher weniger belastet waren, wie es ältere Generationen oft behaupten. Die haben vielmehr geschwiegen und ihre Probleme ins Erwachsenenalter mitgenommen, wo sie ihnen dann heute entgleiten. Kindern und Jugendlichen fällt es heute leichter, ihre Probleme anzusprechen. Das ist zwar in der Menge alarmierend, aber auch wertvoll. Was ihre psychische Gesundheit allerdings beeinträchtigt, ist die schnelllebige digitale Welt heutzutage. Früher scrollte ich nicht den ganzen Tag durch das Leben anderer. Da kommen Körper, Geist und Seele einfach noch nicht mit. Aber mit dem Problem kämpfen Erwachsene genauso.

MOMENT.at: Bleiben wir beim “Früher”. Da hieß es, Frauen können besser über Gefühle reden als Männer. Ist das bei Generation Z nach wie vor so? 

Pirwie: Da unsere Gespräche anonym bleiben, gibt es hinsichtlich der Hemmschwelle keine allzu großen Unterschiede mehr. Männliche Personen haben uns gegenüber mitunter mehr Schwierigkeiten, sich genau auszudrücken, eine weniger ausgeprägte Gefühlssprache. Was sich oft unterscheidet, sind die Themen, die Burschen und Mädchen belasten. Was für Mädchen zum Beispiel ein großes Problem geworden ist: Sextortion, also die Erpressung mit Nacktbildern und Videos.

Die Kids haben sich großartig dabei geschlagen, das alles auszuhalten.

MOMENT.at: Die Belastungen durch die digitale Welt nehmen also durchaus zu. Sehen Sie pessimistisch in die Zukunft Kinder und Jugendlicher?

Pirwie: Wir müssen weiterhin wachsam sein. Die Pandemie hat Minderjährige nachhaltig belastet. Diese Krise ist noch lange nicht vorbei, weil das Virus selbst nicht mehr im Vordergrund steht.

MOMENT.at: Warum?

Pirwie: Das Leben der Jugendlichen fand oft draußen statt. Denken Sie an Ihre eigene Jugend zurück: Wir sind alle im Skatepark oder im Jugendzentrum rumgehangen. Selbst wenn man nur im Park am Handy sitzt, ist man miteinander in Kontakt. Das hat ihnen die Pandemie geraubt, auf einmal mussten sie zuhause bleiben und waren ihrem familiären Umfeld ausgesetzt. Die Kids haben sich großartig dabei geschlagen, das alles auszuhalten. Die vielen Krisengespräche bei 1-4-7 spiegeln aber wider, dass sie einen hohen Preis gezahlt haben. Deswegen sind wir unserer Jugend schuldig, sie jetzt noch mehr zu stützen. 

MOMENT.at: Wie kann diese Unterstützung aussehen? 

Pirwie: “Gesund aus der Krise” ist ein durchaus hilfreiches Projekt. Aber wir müssen uns Notfallpläne einfallen lassen, die nicht nur für eine Periode herhalten, sondern nachhaltig für die Menschheit. Das bedeutet, dass wir das Anrecht auf die psychische Gesundheit und deren angemessene Behandlung bei Bedarf als Grundrecht verankern. 

MOMENT.at: Ich habe es in meiner Jugend leider nie zu Ihnen in die Leitung geschafft. 

Pirwie: Man braucht da ein bisschen Geduld. Ich empfehle, in der Zwischenzeit etwas anderes zu machen, bis sich jemand meldet, Musik hören zum Beispiel. 

Wir wollen damit zeigen: du bist willkommen und du bist niemals zu viel mit deinen Sorgen.

MOMENT.at: Wie kann ich mir ein Gespräch beim Rat auf Draht vorstellen? Gibt es ein Schema, nach dem Sie vorgehen?

Pirwie: Wir sind ein multiprofessionelles Team und verfügen alle über eine Ausbildung in diesem Bereich. Wir arbeiten natürlich mit bewährten Methoden. Ein Schema F gibt es allerdings nicht, denn jedes Gespräch verläuft unterschiedlich. Am Anfang kommt es ganz darauf an, ob die Person von sich aus spricht, oder Starthilfe von uns benötigt. Dann unterstützen wir und stellen ein paar Fragen. Manchmal wollen Personen einfach nur Entlastung, indem sie mit uns über unaussprechliche Dinge reden. Andere wollen sofort einen Tipp oder Ratschlag: “Kannst du dir das mal als außenstehende Person anhören und mir sagen, was du davon hältst?”. Unsere Aufgabe ist, dem Raum zu geben, was sonst keinen Raum hat und die Emotionen auszuhalten, die für viele unaushaltbar scheinen. Wir wollen damit zeigen: du bist willkommen und du bist niemals zu viel mit deinen Sorgen.

MOMENT.at: Wie kann denn die Reise nach einem Rat auf Draht Gespräch weitergehen?

Pirwie: Wir sind keine dauerhaft begleitende Stelle, sondern ein Notruf. Aber wir können die weitere Versorgung niederschwellig in die Wege leiten. Beim Gespräch selbst können wir zum Beispiel die Kinder- und Jugendhilfe zur Telefonkonferenz zuschalten, wenn die Person am Telefon das ausdrücklich möchte. Viele möchten auch gemeinsam mit ihren Eltern mit uns reden. Viele Kinder haben heute Angst, bei offiziellen Stellen anzurufen, dabei können wir durchaus helfen. 

MOMENT.at: Rat auf Draht bietet neuerdings auch Peer-Beratung an. Was kann man sich darunter vorstellen?

Pirwie: Wir haben gemerkt, dass Jugendliche oft den Wunsch haben, mit Gleichaltrigen zu sprechen. Ich bin vielleicht nicht die älteste Person, aber für eine 15-Jährige bin ich furchtbar alt. Deswegen geben wir 16- bis 23-jährigen die Möglichkeit, bei uns zu beraten. Die bekommen dann eine kleine Ausbildung und Skills, um mit Jugendlichen zu chatten. Wir begleiten sie dabei für ein Jahr. Einzig Krisengespräche bleiben dem Stammteam überlassen, das wäre auch nicht zumutbar. Auch uns hilft der Austausch mit unseren jungen Berater:innen. So vergessen wir nicht, wer wir selbst einst waren und was uns damals bewegt hat. 

MOMENT.at: Diese Peer-Beratung erfolgt also über Chat. Geht da nicht das Persönliche verloren?

Pirwie: Das kann man auch positiv auffassen: Wir schaffen damit ein Angebot in der Lebenswelt Jugendlicher. Chatberatung sorgt für mehr Anonymität und Distanz, die ihnen erleichtert, sehr unangenehme Dinge zu fragen. Sie haben auch die Möglichkeit, länger über etwas nachzudenken und sich Zeit für eine Frage zu nehmen. Auf der anderen Seite bietet das Schriftliche durchaus Raum für Missverständnisse. Aber genau da setzt die Peer-Beratung an: Gleichaltrige nutzen dieselbe Bildsprache beim Texten. Grundsätzlich ist es eine noch niederschwelligere Variante, um Hilfe zu suchen und zu finden. Viele Kids, die uns schreiben, rufen später dann auch bei uns an. 

Viele verharmlosen die Sorgen ihrer Kinder auch und sagen “ach, das war bei mir damals auch so, da musst du durch”.

MOMENT.at: Sie haben angesprochen, dass Sie Themen Raum geben, die am Familientisch keinen finden und unausgesprochen bleiben. Warum sind Eltern heutzutage überfordert?

Pirwie: Viele Erwachsene sind sehr bemüht, Hilfe zu leisten, aber die wenigsten hören richtig hin. Für eine jugendliche Person ist es erleichternd, wenn sie mit einer erwachsenen Person sprechen, die ernsthaft zuhört und nicht alles sofort kommentiert und bewertet. Viele verharmlosen die Sorgen ihrer Kinder auch und sagen “ach, das war bei mir damals auch so, da musst du durch”. Ein Klassiker bei Liebeskummer. Dabei ist es für eine jugendliche Person ja wirklich schlimm auszuhalten, was wir aus unserer eigenen Biografie heraus noch wissen sollten. Es kann bei jungen Menschen zu Entfremdung führen, wenn wir ihre Krisen nicht ernst nehmen. 

MOMENT.at: Haben Sie dementsprechend einen Tipp für alle Eltern da draußen?

Pirwie: Ich empfehle, neugierig und offen für den Wandel der Welt zu bleiben. Jugendliche haben kluge Gedanken und Ideen. Es könnte ja sein, dass ich ein bisschen angehalten bin, über mich nachzudenken. Wenn eine jugendliche Person zu mir sagt “du verstehst mich nicht”, dann sage ich “dann erkläre es mir bitte, zeig mir deine Welt”. Wer neugierig ist, bleibt agil im Geist. Ich verstehe auch nicht alles, was ältere Menschen zu mir sagen. Dann frage ich meine Oma auch: „Ja, warum ist das so?” Wir haben alle unsere eigene Geschichte, bei der wir Expert:innen sind und von der andere lernen können. 

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