Als Frau auf TikTok: Mädchen sehen, was Männer wollen
Erstes Video: Was kann ich tragen, wenn ich mir die Haare von blond auf Rot färbe und dann wieder auf Schwarz? Das zweite Video ist ein klassisches “what I eat in a day”: Ein bisschen Avocado-Toast, Salat und noch einen Green Godess Smoothie hinterher. Damit mein innerer Glow auch auf meine Haut abfärbt, sie zum Strahlen und nicht zum Fett-Flecken-Glänzen bringt. Danach geht es weiter mit Videos, die psychische Erkrankungen, Depressionen und Vaterkomplexe verherrlichen und ab Tiktok Nummer fünf dreht sich alles um Jungs.
Das sieht ein 16-jähriges Mädchen innerhalb der ersten fünf Minuten, die es neu angemeldet auf der Plattform ist. Der Algorithmus spielt aus, was wir sehen wollen und verherrlicht das immer-dürre “that girl” Image mit dem Wunsch nach Beziehung, Kindern und Waschbrettbauch. Mit jedem geschmierten Avocado-Toast erobert sich die Bewegung der Schlankheitsfanatiker:innen den Cyberspace ein kleines bisschen weiter zurück.
Tiktok zählt zu den am schnellsten wachsenden Plattformen in der Altersgruppe der 11- bis 17-jährigen in Österreich. Bereits 70% der österreichischen Jugendlichen verwendeten die Plattform 2021. Die meisten User:innen bis Mitte 20 sind weltweit weiblich. Ab 25 Jahren verschiebt sich die Relation und immer mehr Männer verwenden die App. Insgesamt hatte Tiktok 2021 rund 1 Milliarde Nutzer:innen weltweit.
Tiktok: maßgeschneidertes Rabbit-Hole für junge Mädchen
Um wirklich zu simulieren, was 16-jährige Mädchen als Erstes auf der Plattform sehen, habe ich einen neuen Account erstellt. Geburtsdatum: 01.01.2007, Spitzname Anna. Ich swipte mich durch 600 Tiktoks, komplett vom Algorithmus bestimmt, kommentierte nichts, folgte niemandem und schaute einfach nur jene Videos vollständig an, die für ein 16-jähriges Mädchen interessant sein könnten.
“Wie genau der Algorithmus funktioniert, wissen wir nicht. Aber er scheint stark personalisiert zu sein und darauf ausgerichtet, dass er sich merkt, was wir gerne schauen. Dann findet er immer weiter ähnlichen Content”, erklärt Digitalexpertin Ingrid Brodnig. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich sogenannte Filterblasen bilden und man in seiner eigenen Meinung unreflektiert bestärkt wird: “Zum Beispiel, wenn ein Jugendlicher besonders schlecht gestimmt ist, schaut er sich traurige Videos länger an. Dadurch werden ihm immer mehr solche Videos angezeigt”. Während die einen also hauptsächlich Katzen-Videos oder auch Content über Bücher (Booktoks) zu sehen bekommen, können die anderen auch mit extremistischen Inhalten bombardiert werden und immer weiter in ein maßgeschneidertes Rabbit-Hole rutschen.
Auf der Schattenseite von “couples”-Tiktok
Von den 600 gesehenen Tiktoks drehten sich die meisten um Beziehungen zwischen Männern und Frauen.
Die thematische Bandbreite in der Kategorie Beziehungen ist dabei sehr weit. Sie geht von “Was ist mein idealer Typ?”-Beschreibungen bis hin zu Manipulationsstrategien, wie man sich ganz sicher einen Typen angeln kann. Während die ersten Videos noch von Mädchen für Mädchen gemacht werden, mit dem Schwerpunkt auf Beziehungs- und meistens auch Fremdgeh-Geschichten, wird der Ton gegen Frauen immer autoritärer, desto weiter man swipt. Die Frau muss um- und versorgt werden, Restaurant-Reservierungen sowie Outfit-Entscheidungen macht entweder gleich der Mann oder er segnet sie ab.
Ab der 150er-Marke spült es das erste Mal Tiktok-Videos gemacht von Jungs für Mädchen in mein Feed. Junge, attraktive Männer tauchen immer wieder auf. Die Jungs schauen dabei aus wie Abklatsche des bekanntesten deutschen Influencer-Kollektivs – den Elevator-Boys: charmant, fesch, gebleichtes Zahnpasta-Lächeln und Grübchen im Gesicht. Mit spielerischem Boyfriend-Content zielen sie darauf ab, möglichst viele (junge) Follower:innen zu generieren. Dafür spielen sie den respektvollen Freund. Ziel: der Tiktok-Karriere ein Stückchen näherkommen. Denn dort könnte man so richtig viel verdienen, wenn man zum kleinen Kreis der Auserwählten gehört. Die meist-bezahlten Tiktok Stars machten 2021 insgesamt 55,5 Milliarden US-Dollar, Tendenz steigend. Desto länger ich scrolle, desto seltener verirren sich die Surfer-Jungs in mein Feed.
Nur was Männer wollen, zählt
Sie werden von älteren, tafferen, redegewandteren Männern ersetzt. Ihr Beziehungsmantra für Frauen: Hand halten, anhänglich sein, bloß keine offenen Liebes-Bekundungen vom Mann erwarten oder sie mit anderen männlichen Wesen vergleichen. Das würde ihrem Ego und damit gleichzeitig der Beziehung schaden. Denn die Beziehung, das sind sie. Von romantischer, sozialer oder gar sexueller Selbstbestimmung für Frauen keine Spur. Wie toxisch der Content eigentlich ist, erkennt man oft gar nicht auf den ersten Blick. Offiziell sind sie “Life-Coach”, “Berater”, “Naturmensch”.
Einer davon ist Marcin – besser bekannt als @venusheld. Mit seinen TikToks erreicht er Hunderttausende Menschen. Die Themen sind divers und reichen von Gründen, warum der Mann keine Beziehung will, Red Flags bei Girls und ‘warum müssen Männer ständig lügen?’ bis hin zu grundlegenden Fragen, wie ‘bist du attraktiv?’. Das Mantra: Männer wollen sich gebraucht fühlen. Deswegen seien laut ihm (finanziell) unabhängige Frauen ein absolutes No-Go. Zumindest, wenn sie es offen zugeben. Unter dem Hashtag “was männer denken” finden sich Videos mit über vier Millionen Aufrufen, unter “was männer wollen” Tiktoks mit über neun Millionen Views.
In diesen machen sich selbsternannte Alpha-Tiere über Frauen lustig und degradieren sie offen. Jungen Frauen wird in solchen Videos ein passives, untergeordnetes, unselbständiges Frauenbild propagiert. Generell heißt es für Frauen ruhig sein und Klappe halten auf Tiktok, denn der Mann regelt: Er erobert, er bezirzt, er sagt dir sogar, welche Selfie-Posen am besten aussehen. Für Männer dienen junge Frauen als ultimative Macho-Vorlage.
“Dein Problem mit Frauen ist deine Intelligenz…”
Gleichzeitig mit den Alpha-Tieren taucht ab Tiktok 150 Niklas Becker auf. Selbsternannter Dating-Experte. Er will jungen Männern zeigen, wie man “die Richtige findet”. Obwohl sich die Videos nicht explizit an Mädchen richten, wird unterschwellig ein Frauenbild vermittelt: Frauen müssen angesprochen und erobert werden. Wenn es mal nicht klappt, dann sind nicht die Männer Schuld, denn “dein größtes Datingproblem ist deine Intelligenz”. Wenn Frauen nicht schnell genug zurückschreiben oder zu lustlos sind, dann “lass es und bewahre deinen letzten Funken Selbstrespekt”. Junge Frauen und Männern werden durch solche Videos stark unter Druck gesetzt. Das Ziel: nicht mehr Daten, sondern endlich den/die Richtige finden.
Zur Zielscheibe machen sich Frauen aber auch gegenseitig. Unter anderem im “Wenigstens Trend” (26,8 Millionen Aufrufe). Hier beleidigen sich junge Frauen und machen sich publik auf Social Media in einem anfangs freundschaftlichen Format übereinander lustig. Dabei schaukeln sich die Beleidigungen immer weiter hoch und müssen die jeweils andere übertrumpfen. So begann es beispielsweise mit “Wenigstens habe ich Matura” bis hin zu “Wenigstens weiß ich, dass die pull-out-Methode nicht wirksam ist…”, in dem speziell-gesehenen Video relativ kritisch, weil eine Mutter und Tochter das Video drehten. Obwohl die Videos zur Belustigung gedacht waren, verging mir das Schmunzeln schnell. Das Mantra “eine für eine” zieht sich durch die gesamten 600 Videos. Dabei bietet fehlende Solidarität unter jungen Frauen zusätzliche Angriffsfläche für toxische Männlichkeit.
Männer beherrschen das gesellschaftliche Narrativ. Auch auf Tiktok. Während junge bzw. altersadäquate Männer für ein 16-jähriges Mädchen eher ein klassisches Junge-von-nebenan-Image pflegen, kritisieren die Älteren, geben Beziehungs-Tipps und erklären jungen Frauen die Welt, vor allem in der privaten Sphäre der sozialen Beziehungen.
Zur Diskussion steht dabei alles: das Verhalten von Frauen, ihr Tun und vor allem ihr Aussehen.
Unter den Beziehungs-Content mischen sich auch immer wieder Tiktoks zum Thema Nachwuchs und Kindererziehung. Junge Mütter erklären mir, wie froh sie darüber sind, dass sie schon früh in ihrem Leben “pro life” waren und nicht abgetrieben haben. Die meisten von ihnen nicht älter als mein 16-jähriges Avatar-Ich.
Schöner, schlanker, psychisch krank
Wie sich die Vorstellungen über Beziehungen durch solche Videos ändern, wissen wir noch nicht. Die Auswirkungen von Tiktok auf das Körperbild und Essverhalten von jungen Frauen sind aber gut dokumentiert.
Tiktok hat starke negative Auswirkungen auf das Körper-Selbstbild von jungen Frauen und setzt dabei ganz früh an. Das belegen zahlreiche Studien: 13-jährige Mädchen sehen innerhalb von 30 Minuten erste Anorexie-verherrlichende Videos auf der Plattform. Diese werden oft getarnt als Essens-Videos oder “what i eat in a day”. Unrealistische, niemals erreichbare Schönheitsideale werden propagiert und ungefiltert an junge Userinnen ausgespielt. “Die Gefahr ist hier, dass Social Media ein Bild von Normalität schafft – ,wie sehen Leute im Feed aus?` führt zu einem Gefühl von ,wie ist es normal auszuschauen?´. Dabei sind viele berühmte Influencer:innen oft überdurchschnittlich sportlich oder auch hübsch”, erklärt Brodnig. Das Problem gibt es aber nicht nur auf TikTok: “Eine Untersuchung von Instagram selbst zeigte, dass die Nutzung der App bei einem von drei Mädchen im Teenager-Alter das Körperbild schlimmer machte”.
Weitere Untersuchungen aus China (dem Geburtsort von Tiktok) belegten 2022, dass Tiktok bei Jugendlichen zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Angst, Stress und Gedächtnisverlust führen kann. Während LGBTQ-Content strengen Moderationsrichtlinien unterliegt, werden frauenverachtende Beziehungs-Videos, Magersucht-verherrlichender Food-Content und glorifizierende Depressions-Videos nicht nur nicht gebannt, sondern absichtlich gepusht und einer Millionen-Community serviert.
Ingrid Brodnig betont deswegen die Wichtigkeit von Wissenschaft: “Tiktok will jetzt mit Forscher:innen zusammenarbeiten und es gibt diesbezüglich auch erste Anläufe. Im Vergleich zu anderen Plattformen hinken wir aber noch hinterher”. Das ist besonders fatal aufgrund des mehrheitlich jungen Alters der User:innen-Gruppe. Die EU droht unter anderem deswegen damit, die Social Media App zu verbieten. Theoretisch wäre dies mit dem Digital Service Act möglich. In der Praxis aber eher unwahrscheinlich. “Wahrscheinlich wird Tiktok schrittweise dazu gezwungen werden, immer mehr Daten von und über sich preiszugeben”, meint Brodnig. Ein komplettes Verbot wäre ein radikaler Schritt, wofür die EU nicht bekannt sei.
Was mir von den 600 Video-Schnipsel bleibt, ist ein mulmiges Gefühl, wenn ich in den Spiegel schaue, ein schlechtes Gewissen, wenn es ein Kaffee statt eines Green-Godess-Smoothies am Morgen wird und der konstante Wunsch nach Bestätigung von jedem männlichen Wesen, das auch nur einen Tick älter ist als ich. Denn ausschließlich deren Meinung zählt. Gott sei Dank aber nur auf Tiktok.
Diesen Selbstversuch haben wir auch andersum: Redakteur Sebastian hat sich als 16-jähriger Junge auf TikTok angemeldet und sich in ein Loch aus toxischer Männlichkeit, Frauenhass und Verschwörungsmythen begeben.