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Klimakrise

Das sechste große Massenaussterben: Stell dir vor, die Natur stirbt und niemand berichtet darüber

Wir befinden uns mitten im sechsten großen Massenaussterben. Durch den Menschen sterben viele Arten 1.000-mal schneller aus als ohne ihn. Das ist auch für uns fatal. Trotzdem  bezieht sich nur jeder 180. Beitrag in Österreichs Tageszeitungen darauf. Das ist noch weniger als bei der Klimakrise (jeder 50.) - und schon die Berichterstattung dazu wird der Tragweite des Problems nicht gerecht. Ein Beitrag über zwei Krisen, die zusammenhängen und das Schicksal der medialen Vergessenheit teilen.

Torsten Schäfer hat heute eine Birke mit. Sie sitzt neben den Studierenden im Hörsaal, hat ihren eigenen Platz an der Hochschule Darmstadt. Warum macht der Journalismus-Professor das? „Ich versuche, die Natur an den Tisch zu holen“, sagt Schäfer. Die Birke ist Teil eines Kunstprojekts. So lässt sich ein Stück Wald wie ein Koffer auf Reisen mitnehmen. Denn: Wir haben uns von der Natur entfremdet. Das ist ein Problem, denn es steht schlecht um sie. Seit 1970 ist der Bestand wildlebender Arten weltweit um 69 Prozent eingebrochen. Durch den Menschen sterben viele Arten 1.000-mal schneller aus als ohne ihn. Expert:innen sprechen vom sechsten großen Massenaussterben.

In Österreich sind beispielsweise in den letzten 20 Jahren rund 40 Prozent der Brutvögel verschwunden. „Den meisten Menschen fällt das gar nicht auf“, sagt Franz Essl. Er forscht an der Universität Wien zum Verlust der Arten- und Naturvielfalt. Das Artensterben geschehe noch leiser und schleichender als der Klimawandel. „Daher ist es naheliegend, dass das Klima stärker in den Medien präsent ist“, so der Experte.

 
Eine Birke to go für die Journalismus Uni: Ein Stück einer Birke mit angeschraubtem Griff als provokantes Anschauungsmaterial für Journalismus-Studierende

Eine Birke-to-go für die Journalismus Uni

 

Foto: Torsten Schäfer

 

Jeder 180. Beitrag bezieht sich auf die Biodiversitätskrise

Auch den Medien scheint die Natur fremd. Der Verlust der Natur und Artenvielfalt ist eine große Gefahr und spitzt sich dramatisch zu. Die Berichterstattung darüber aber nicht. Sie hat sich in den vergangen Jahrzehnten gerade einmal verdoppelt. In 199 von 200 Artikeln von Österreichs Tageszeitungen wird die Biodiversitätskrise aber nicht erwähnt.

Das ist noch schlimmer als die Berichterstattung über die Klimakrise. Die ist heute 16-mal häufiger in den Medien als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aber in 98 von 100 Beiträgen wird auch die wohl größte Krise der Menschheit nicht erwähnt.

Die Klimakrise wird medial endlich etwas präsenter, der Biodiversitätsverlust aber kaum. Die Kluft zwischen beiden hat sich vor allem in den letzten Jahren wieder stärker geöffnet. All das zeigt eine Analyse der Austria Presse Agentur (APA).

Artenvielfalt gefährdet: Deutschland ist einen medialen Schritt weiter

Die Befunde gelten nicht nur für Österreich. Der internationale Trend sieht ähnlich aus. Deutschen Tageszeitungen stehen zumindest bei der Klimakrise zwar etwas besser da. Sie kommt in jedem 30. Artikel vor (3,45 % der Gesamtberichterstattung).

 
Biodiversität und Klimakrise in den Medien

Biodiversität und Klimakrise in den Medien

 

Aber auch bei unseren Nachbar:innen ist die Berichterstattung eher ereignisorientiert. „Wenn es einen Klimagipfel gibt, große Studien erscheinen oder ein Extremwetterereignis passiert, wird die Berichterstattung sehr breit gezogen“, sagt Torsten Schäfer. Man müsse das Klima aber als Dimension sehen, die alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche betrifft. Deshalb müsse die Klimakrise ressort- und themenübergreifend behandelt werden. Die Biodiversitätskrise ebenso.

Sechstes Massenaussterben: Geht es so weiter, brechen die Systeme zusammen

Auch Essl betont, dass Klimawandel und Biodiversität eng zusammenhängen. Die größte Bedrohung für unsere Natur sei allerdings zumindest derzeit noch nicht das veränderte Klima, sondern die intensive Landnutzung: „Täglich werden in Österreich mehrere WM-Stadien versiegelt“, sagt er. Die kleine Alpenrepublik verbraucht so viel Boden wie kaum ein anderes EU-Land. Zudem werden unsere Gewässer für die Energienutzung und Flächengewinnung stark beansprucht. Paradoxerweise gefährdet auch die Mechanisierung der Landwirtschaft die weltweite Ernährungssicherheit.

„Wenn es so weitergeht, brechen auf einem endlichen Planeten irgendwann die Systeme zusammen“, warnt Essl deshalb. Es brauche strukturelle Veränderungen. Etwa eine naturverträgliche Landwirtschaft, die sich für Landwirt:innen rechnet. Auch Abgaben auf Treibhausgase und auf den Verbrauch von Ressourcen und Flächen wären wichtig. Zudem sollten mindestens 30 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz gestellt werden. Darüber wird ab 7. Dezember auf der 15. Weltbiodiversitätskonferenz (COP 15) verhandelt.

Video zur Weltnaturschutzkonferenz: Was kann Österreich gegen Artensterben tun?

 

Einige wenige Vorzeigeprojekte bei Medien

Zumindest das Bewusstsein für notwendige Maßnahmen sei gestiegen, findet Essl. In den Medien spiegelt sich das aber kaum wider. Warum Wissenschaftsthemen etwa beim Qualitäts-Radiosender Ö1 nicht so regelmäßig vorkommen wie Sport oder Kultur, versteht Essl nicht. Besser machen es hier die Wiener Wochenzeitung „Der Falter“ oder die Tageszeitung „Der Standard“, mit jeweils eigenen Natur-Schwerpunkten. In Deutschland haben die “RiffReporter” den Schwerpunkt “Countdown Natur” geschaffen.

Zu Klimajournalismus gibt es mittlerweile sogar eigene Netzwerke in Deutschland, der Schweiz und in Österreich (Transparenz-Hinweis: Einer der Autoren ist Vorstandsmitglied des Netzwerk Klimajournalismus Österreich). Ein Netzwerk für Biodiversitätsjournalismus fehlt bisher. Das von Schäfer gegründete Portal “Grüner Journalismus” kann diese Lücke nur teilweise füllen.

 
Die Ente blickt mitleidig auf die Forelle: Bachforellen sind in Österreich gefährdet

Die Ente blickt mitleidig auf die Forelle: Bachforellen (nicht im Bild) sind in Österreich gefährdet (Vorwarnstufe)

Foto ingokrueger/Pixabay

Süße Tierbilder: Man kann eine Geschichte auch animalisieren

Klima und Biodiversität werden medial kaum zusammengedacht. Nur 0,13 Prozent der Gesamtberichterstattung behandelt diese “Zwillingskrise”, wie Torsten Schäfer sie nennt. Etwa einer von 800. „Das Klima überlagert in der journalistischen Szene die Arten- und Naturansätze“, kritisiert der Journalismus-Professor. Eine seiner Studierenden habe sich in einer Masterarbeit 700 Sendungen der deutschen “Tagesschau” und vom “Heute-Journal” des ZDF angesehen. In keinem einzigen Beitrag war die Klimaberichterstattung mit jener zur Biodiversität explizit verbunden.

Dabei sei gerade die Natur das Eingangstor zur Klimakommunikation. Tiere und Pflanzen sind weniger abstrakt als unsichtbares CO2. Man finde in der Natur auch bessere Bilder. “Eine Geschichte kann man nicht nur personalisieren, sondern auch animalisieren”, sagt Schäfer. Zwar nicht mit dem Klima-Eisbären – dieser ist weder neu, noch erzeugt er Nähe und Betroffenheit -, aber mit vielen anderen Tierarten. (Die Rote Liste gefährdeter Tierarten ist in Österreich lang.) Zudem biete die Natur gute Beispiele für konstruktiven Journalismus: etwa eine renaturierte Flussstrecke, ein wiedervernässtes Moor oder ein naturbelassenes Stück Wald.

Alte Routinen durchbrechen

Damit solche Geschichten häufiger werden, brauche es mehr Fortbildungsmöglichkeiten, eine ganzheitliche Journalismusausbildung und mehr Geld für Recherchen vor Ort. “Wir müssen besser zuhören und schauen, was mit den Landschaften passiert”, sagt Schäfer. Hier sei der Lokaljournalismus gefordert. Dieser müsse besser finanziert werden.

Torsten Schäfer will die Routinen auch mit experimentellen Formaten durchbrechen. Deshalb lehrt er Journalismus oft draußen in der Natur – und manchmal bringt er sie auch mit in den Hörsaal.

 
Die "Global Biodiversity Stripes" stellen dar, dass die Artenvielfalt seit 180 um 69& abgenommen hat

Die „Global Biodiversity Stripes“ stellen dar, dass die Artenvielfalt seit 180 um 69& abgenommen hat

 

Erklärung zur Erhebung der gezählten Artikel über die Klimakrise und Biodiversitätskrise:

Für die Anzahl der Artikel zu Klima- und Biodiversitätskrise wurden nachfolgende Suchwörter eingesetzt, wobei jeder Artikel jeweils mindestens eines der Wörter (oder beide Worte bei zusammengesetzten Wörtern wie “globale Erhitzung”)  enthalten muss. Artikel die beide Krisen diskutieren müssen mindestens ein Wort (bzw. zwei Wörtern) aus jedem Bereich beinhalten. Der Suchzeitraum erstreckt sich vom 01.01.2000 bis zum 30.11.2022.

Die Suchwörter basieren auf den Studien von Legagneux et al. (2018), Veríssimo et al. (2014) und Brüggemann und Sadikni (2020) und wurden für den österreichischen Kontext um neue Worte im Diskurs adaptiert und erweitert. Allgemeine Wörter wie Umwelt, Natur, Umweltschutz und Naturschutz wurden nicht miteinbezogen da sie sich auf beide Krisen oder auf andere Kontexte beziehen können (siehe auch Legagneux et al., 2018).

Der relative Anteil der Biodiversitätsberichterstattung sowie jener zu Klima und Biodiversität gemeinsam, bezieht sich auf eine Analyse der Austria Presse Agentur (APA). Dafür wurde der relative Anteil der Klimaberichterstattung an der Gesamtberichterstattung in Österreichs Tageszeitungen (1,92 %) mit den Ergebnissen unserer Keyword-Suche in der APA-Datenbank ins Verhältnis gesetzt. Ergebnisse beziehen sich jeweils auf den Zeitraum der letzten drei Jahre (2020-2022).

 

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