Ilja Steffelbauer: “Ich glaube, dass wir uns zu Tode fressen werden.”
MOMENT.at: Seit ich mich erinnern kann, essen wir in meiner Familie – wie viele andere in Oberösterreich – zu Weihnachten Bratwürstel. Warum machen wir das eigentlich?
Ilja Steffelbauer: Das hängt mit den Schlachtrhythmen zusammen. Schweine im Winter zu schlachten ist schlau, weil man durch die niedrigen Temperaturen ein paar Tage zusätzliche Frische erzeugen kann. Man darf ja nicht vergessen: Früher gab es keine Kühlung. Wenn man ein Schwein schlachtet, sind die Bestandteile also unterschiedlich lang haltbar. Und das, was am kürzesten haltbar ist, sind meistens die Rohbratwürste.
Am Weihnachtsabend endet die christliche Fastenzeit. Nachdem die Schweine einige Tage vorher geschlachtet wurden, hat man nach der Fastenzeit einfach gleich das gegessen, was als erstes verbraucht werden musste. Wer es streng genommen hat, oder nicht warten konnte, hat Karpfen gegessen. Denn eigentlich endet die Fastenzeit ja erst zu Mitternacht.
MOMENT.at: Um den Fleischkonsum haben sich viele solcher Rituale entwickelt, die für uns zur Tradition geworden sind. Warum hat gerade Fleisch so eine identitätsstiftende Wirkung?
Steffelbauer: Weil Fleisch das Nahrungsmittel ist, das am schwierigsten und mühsamsten verfügbar war für die Mehrheit der Menschen in historischen Agrargesellschaften. Und weil die Menschheit darauf wahnsinnig gierig ist.
Das sind wir, weil wir in unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit in sehr hohem Ausmaß Fleischesser:innen waren. Vor 10.000 Jahren sind wir in eine Situation geraten, in der das nicht mehr so leicht möglich war. Nach dem Übergang zur Agrargesellschaft war der Wunsch nach Fleisch nicht mehr ansatzweise zu befriedigen.
Fleisch war ein Prestige-Nahrungsmittel. Es hatte einerseits einen gesellschaftlichen Wert, weil es selten war. Es konnten sich nur diejenigen regelmäßig und in größerer Menge leisten, die in der Gesellschaft ganz oben standen. Andererseits ist es ein Nahrungsmittel, das noch mit anderen Elementen belegt ist: Fleisch kommt von lebendigen Wesen, die getötet werden müssen. Das ist mit Blut verbunden.
MOMENT.at: Haben sich deswegen gerade um das Töten der Tiere und um den Konsum so viele Regeln gebildet?
Steffelbauer: Das hat mit sozialer Abgrenzungen zu tun. Nahrungsmittel-Tabus gibt es in den meisten Gesellschaften. Die können sehr spezielle Formen annehmen. In gewissen südindischen Gruppen wird Frauen etwa verboten, während der Menstruation scharf zu essen.
Essen ist etwas, das wir zumindest zwei bis drei Mal täglich machen. Damit können wir uns kontinuierlich von anderen abgrenzen. Die Frage ist: Wer darf was, wann und wie essen? Wir könnten uns natürlich auch darüber abgrenzen, wie wir unsere Schuhbänder binden. Aber das wäre wohl nicht so effektiv.
MOMENT.at: Der Konsum von Fleisch hatte viel Einfluss auf unsere Entwicklung. Kann man ihn als positiven Faktor in der Menschheitsgeschichte bezeichnen?
Steffelbauer: Kennen Sie den Autor Douglas Adams? Er hat gesagt, dass manche Leute der Meinung seien, dass schon der erste Schritt unserer Vorfahren aufs Land ein Fehler war. Was man als positiv beurteilt in der Menschheitsgeschichte, ist also eine Geschmacksfrage.
Was man auf jeden Fall sagen kann: Wir wären nicht, was wir sind, wenn wir nicht zu bestimmten Phasen in unserer Entwicklung gewisse Abzweigungen genommen hätten. Und eine dieser Abzweigungen hat viel mit dem Übergang zu einer Ernährung zu tun, die sehr auf tierische Produkte ausgerichtet war. Ob das eine gute Idee war oder nicht, das lasse ich dahingestellt.
MOMENT.at: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die spätere Sesshaftwerdung und der Umstieg auf mehr pflanzliche Ernährung die Menschheit geprägt und vieles erschwert hat. Dass wir jetzt so viel Fleisch essen können, ist aus dieser Perspektive doch eine riesige Errungenschaft.
Steffelbauer: Das kann man aus diesem Blickwinkel natürlich so sehen und als Fortschrittsmythos erzählen. Eine Erzählung, die Sie heute noch oft hören, ist: „Früher war alles ganz furchtbar. Durch technischen Fortschritt sind wir zu besseren, glücklicheren und gesünderen Menschen geworden. Und wenn wir so weitermachen, wird das früher oder später für alle Menschen auf diesem Planeten der optimale Endzustand sein.“
Gerade Menschen wie meine Eltern und Großeltern werden dem zustimmen. Sie haben die Nachkriegszeit mit starkem Mangel und Hungerzeiten erlebt. Für die war das ja ein erkennbarer, an ihrer eigenen Lebenserfahrung ablesbarer, Fortschritt der Menschheit, dass das alles nicht mehr so schwierig ist.
Aber wir haben irgendwann in dieser Zeit einsehen müssen: Wenn wir diese Erzählung auf den gesamten Planeten ausrollen – also wenn wir allen Menschen diesen Lebensstil ermöglichen wollen -, dann werden wir mit einem Planeten nicht auskommen. Und gerade die aufstrebenden Mittelschichten in den Schwellenländern streben genau diesen Lebensstil an, den wir als normal empfinden.
Also ja: Eigentlich ist es schön und durchaus gut, wenn wir mehr tierische Produkte zur Verfügung haben als unsere Bauernvorfahren in den letzten 10.000 Jahren. Aber wenn wir das mit 11 Milliarden Menschen machen wollen, geht sich das einfach nicht aus.
MOMENT.at: Gleichzeitig ist es doch so, dass kein Fleisch ja auch keine Lösung ist.
Steffelbauer: Das ist ein ganz essenzieller Punkt. Natürlich kann man sich aus philosophischer Perspektive dazu entscheiden, keinem anderen Lebewesen Leid antun zu wollen. Das ist absolut nachvollziehbar. Aber viele der verfügbaren Nutzflächen auf diesem Planeten sind vor allem für grasende Tiere geeignet. Wir können dieselben Flächen nicht für Getreideanbau oder ähnliches verwenden.
Das Problem ist, dass wir versuchen denselben Lebensstil überall auf diesem Planeten zu leben. Das Schöne an der Geschichte ist, dass diese unglaubliche Buntheit an Ernährung und Lebensstilen ja dadurch entstanden ist, dass sich die Menschen spezifisch an ihre jeweilige Region angepasst haben. Wir leben in einer Welt, in der etwas globalisiert ist, was so nicht globalisiert werden kann. Weil es an so vielen Orten einfach nicht nachhaltig betrieben werden kann.
Wir brauchen Systeme, die an die jeweiligen Bedingungen angepasst sind und die zahllosen Nischen, die existieren, ausnutzen. Alles andere sind philosophische Gespräche, die wir führen können. Sie sind aber nicht pragmatisch.
MOMENT.at: Fleisch hat über Jahrtausende einen sehr geringen Teil unserer Ernährung ausgemacht. Aber Fleischkonsum war gleichzeitig immer ein riesiges Thema in allen Gesellschaften. Warum war das so präsent?
Steffelbauer: Wir müssen einen Punkt etwas differenzieren: Es geht in erster Linie nicht um Fleisch an sich, sondern um tierische Nahrungsmittel. Und die waren schon alltäglich. So gut wie alle historischen Gesellschaften haben einen relevanten Anteil von tierischen Produkten an ihrer Ernährung.
Bleiben wir mal in unserer Region: Alltäglich aßen unsere Vorfahren im Alpenraum, was tierische Produkte betrifft, vor allem Milchprodukte. Butter wurde als Speisefett eingesetzt, weil es ja kaum pflanzliche Alternativen gab. Wer zu keiner Kuhmilch kam, hat zumindest Ziegenmilch getrunken. Ziegen sind super, die fressen alles und sie müssen sich kaum um sie kümmern. Ein weiteres wichtiges Element waren Eier. Schon bei den Römern gab es den Spruch „Vom Ei zum Apfel“. Das Ei war das erste, was man am Tag gegessen hat. Der Apfel war die Nachspeise am Abend, also das Letzte, das man gegessen hat.
Wenn wir tatsächlich von Fleisch sprechen, dann geht es nicht um das Fleisch, das wir heute darunter verstehen. Sondern hauptsächlich um konserviertes Fleisch, sprich: Speck. Und dabei vor allem Schweinespeck. Das Schwein ist ein wahnsinnig guter Futterverwerter, der die Speisereste essen kann, die in so gut wie jedem Haushalt anfallen. Und was macht man dann, wenn man es geschlachtet hat? Möglichst viel Speck, weil der bleibt haltbar.
Was man übrigens nicht vergessen darf: Die Menschen haben früher nicht nur wenig Fleisch gegessen, sondern auch wenig Obst und Gemüse. Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass unsere Vorfahren eine Ernährung hatten, wie wir sie heute in einem netten vegetarischen Restaurant bekommen. Die Hauptnahrungsquelle und Energiequelle waren Kohlenhydrate. Also das täglich Brot.
In derselben Zeit, in der wir angefangen haben, mehr Fleisch zu essen – also am Ende der Nachkriegszeit – haben wir auch begonnen, mehr Obst und Gemüse zu essen. Unsere Ernährungsweise hat sich qualitativ massiv verändert. Diese Veränderung hat uns erlaubt, sehr viel wählerischer zu werden. Wir müssen uns bewusst machen, dass dieser Überfluss sich auf alle Bereiche bezieht.
MOMENT.at: Fleisch essen ist mittlerweile so alltäglich, dass es eigentlich kein großes Thema mehr ist – sollte man zumindest meinen. Doch wir erleben speziell in Sozialen Medien das Gegenteil. Menschen reagieren unglaublich emotional darauf. Warum hängen wir so stark am Fleisch?
Steffelbauer: Ich glaube, dass das nichts mit dem Fleisch an sich zu tun hat. Sondern dass es Teil einer gesellschaftlichen Debatte geworden ist, die darüber weit hinausgeht. Die Fronten verlaufen nicht zwischen denen, die sagen, dass Fleisch schlecht ist und dem Rest der Bevölkerung. Tatsächlich ist es eine Debatte innerhalb der Elite. Durch diese werden die Menschen außerhalb mobilisiert.
Die Fleischkonsum-Debatte wird von denselben Schichten getragen, die auch sonst die Debatten beherrschen. Die Produzenten spielen in diesem Diskurs etwa keine große Rolle. Für die ist das eine Überraschung, dass das gerade ein Thema ist. Weil sie auch nicht Teil dieser Welt sind, in der man über solche Dinge diskutiert. Ein großer Teil der Gesellschaft weiß gar nicht, wie ihm passiert. Aber sie bekommen alle paar Wochen um die Ohren gehaut, dass das, was sie machen, unmoralisch und falsch ist. Daraus entsteht dieser heftige Widerstand.
An der Substanz dieser Debatte zweifelt ja eigentlich niemand. Kein Mensch will Schweine quälen. Wenn sie draußen die Bilder von dreckigen Schweinen auf Vollspaltenböden herzeigen, finden sie so gut wie niemanden, der sagt: „Das ist mir egal“. Nichtsdestotrotz beansprucht aber eine Gruppe diesen Diskurs für sich und konstruiert eine Frontstellung, die so nicht existiert. Und dadurch fühlt sich eine andere Seite zu Unrecht beschuldigt.
Nichts von dem – und das ist ganz wichtig – stellt die faktischen Problemlagen infrage. Nur geht es eben nicht darum, dass wir mit unseren Konsummustern etwas verändern können. Sondern es geht darum, dass wir dafür eigentlich einen Mechanismus hätten. Der heißt Politik.
MOMENT.at: Das haben wir in unserem letzten Artikel dazu aufgezeigt. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, macht aber viel zu wenig. In Interviews und Anfragebeantwortungen bekam ich das Gefühl vermittelt, dass sich das auch kaum jemand traut. Was nicht weiter verwundert, wenn man sich Kommentare zu dem Artikel ansieht. “Ich lasse mir sicher nicht das Fleisch vom Teller wegnehmen!” oder “Ich werde jetzt absichtlich mehr Fleisch essen!” bekamen wir da etwa zu hören.
Steffelbauer: Da sind wir genau bei dieser Trotzreaktion von Personen, die sich angegriffen fühlen. Und das hat mit einer weiteren Ebene zu tun: Wir leben in einer Gesellschaft, die unter enormen Druck steht.
Vor 50 Jahren veröffentlichte der Club of Rome die Studie “Limits of Growth”. Damals war klar: Der Zeitpunkt, wo sich die Szenarien zwischen Katastrophe und „Wir schaffen das“ aufspalten, werden die 2020er-Jahre sein. Da sind wir jetzt. Bei der Jubiläumsveranstaltung des Club of Rome wurde gesagt, dass wir im “business as usual”-Szenario sind. Ganz so, als hätten wir seit den 70ern nichts geändert. Das klingt im ersten Moment so, als wäre es ein wahnsinnig schlechtes Urteil über unsere Spezies.
Dabei haben wir eigentlich einiges gemacht. Wir haben etwa das Ozonloch und den sauren Regen halbwegs in den Griff bekommen. Nur: Gleichzeitig haben uns die normal weiterwachsenden Faktoren unserer Entwicklung alles zunichtegemacht, was wir in der Hinsicht erreicht haben. Die Tatsache, dass wir heute so viel Strom verbrauchen – nämlich ein vielfaches wie die Menschen in den 70ern – hängt damit zusammen, dass wir uns digitalisiert haben. Effiziente Motoren hätten uns in den letzten 50 Jahren viel eingespart. Aber das haben wir verblasen, indem wir SUVs fahren.
Also einerseits haben die Menschen das Gefühl, dass sie eh viel machen und brav sind. Nur alles das, was sie tun, reicht nicht aus. Weil einfach so viel dazukommt, was unser System belastet.
MOMENT.at: Fakt ist trotzdem, dass wir extreme Massen an Fleisch essen und das zu großen Problemen führt. Können wir von diesen Mengen überhaupt noch wegkommen?
Steffelbauer: Meine Antwort als Historiker, der sich viel mit der Evolution von Gesellschaft beschäftigt, lautet: wahrscheinlich nicht. Und zwar so lange nicht, bis wir es uns nicht mehr leisten können. Denn normalerweise halten Zivilisationen ihren Konsumlevel so lange aufrecht, bis sie an eine Grenze stoßen, an der sie sich das nicht mehr erlauben können.
Wir stoßen wahrscheinlich nicht bei Fleischprodukten zuerst an unsere Grenzen. Was nämlich wirklich teuer im Supermarkt ist, sind Dinge wie frisches Obst und Gemüse. Man wird mit billigen Fleischprodukten wie knorpeligen Chicken-Nuggets noch lange billiger leben, als mit einer gesunden gemüsebasierten Ernährung.
Einfach gesagt: Ich glaube, dass wir uns zu Tode fressen werden. Weil es äußerst schwierig ist, den Leuten zu vermitteln, dass sie mit etwas aufhören sollen, mit dem sie nicht offensichtlich aufhören müssen.
„Fleisch. Warum es die Gesellschaft spaltet“ von Ilja Steffelbauer ist im Brandstätter Verlag erschienen.