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Gesundheit
Ungleichheit

Psychotherapie in Österreich: Wer nicht warten kann, muss zahlen

Psychotherapie: In Österreich gibt es nur 70.000 Plätze auf Krankenschein. Dabei leiden 1,9 Millionen Menschen unter depressiven Symptomen - und Corona hat die Nachfrage nur erhöht. Auch der aktuelle Ausbau der Plätze verhindert nicht, dass viele für ihre Heilung nach wie vor tief in die Tasche greifen müssen - oder unbehandelt bleiben, wenn sie das nicht können.

Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr führt Manfred ein unbeschwertes Leben mit Frau, Kind und einem erfolgreichen Unternehmen. Dann verändert sich alles schlagartig: Traumata aus Manfreds Kindheit melden sich zum ersten Mal. Er erlebt grauenvolle Flashbacks und verfällt in schwere Depressionen. Manfred wurde als sechsjähriger Opfer sexualisierter Gewalt und leidet seit 20 Jahren unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Seit seiner Diagnose ist Manfred immer wieder arbeitsunfähig.

“Ich wollte mein Leben zurück, und zwar sofort“, sagt der 50-Jährige heute rückblickend auf das Jahr 2001, in dem seine Krankheit ausbrach. Auf der Suche nach Therapie stieß er auf lange Wartezeiten und nahm schließlich Schicksal und Geldbörse selbst in die Hand. Die Krankheit trieb ihn in den finanziellen Ruin:  „Ich habe in meinem Leben locker 100.000 Euro in meine Genesung gesteckt, bin von Pontius zu Pilatus gerannt“, erzählt Manfred.  2017 kam endlich finanzielle Hilfe. Er bekam einen Kassenplatz. Der lief allerdings im Frühjahr dieses Jahres aus. Seitdem ist Manfred, wie viele, wieder auf der Suche und kämpft sich durch Bürokratie- und Ärztedschungel. Die Flashbacks werden von Tag zu Tag wieder schlimmer.

Regierung und Kassen trödeln beim Ausbau der Kassenplätze

Wer seine psychische Erkrankung in Österreich behandeln will, muss entweder warten oder zahlen, bis der Arzt kommt. 2018 standen noch 70.000 vollfinanzierte Kassentherapieplätze zur Verfügung – für 0,8% der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland, wo die Wartezeiten laut Studie immerhin auch bei durchschnittlich 22 Wochen liegen, werden 2,5% versorgt. Das ist viel besser, aber auch nicht genug: die WHO empfiehlt eine Versorgung von 3-5%. Sie prognostiziert nämlich, dass Depression bis 2030 zur Volkskrankheit Nummer 1 wird.

Die Pandemie hat das Problem nicht geschaffen, nur verschärft. Regierung und Versicherungsträger wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Der Ausbau der Plätze steht im Regierungsprogramm. 20.000 neue vollfinanzierte Plätze sollen bis Dezember 2022 kommen.

Damit orientiert man sich am vermeintlichen Musterschüler Salzburg: Hier haben zumindest 1,23% der Menschen Zugang zu Gratis-Therapie. Mit den 20.000 neuen Plätzen soll das auch bundesweit so werden. Eine 1,9-Millionen-Stadt wie Wien bekommt so 4.000 neue Plätze. Zu wenig für viele Betroffene. Für Manfred ist jedenfalls noch keiner dabei.

Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie: Das Geld fehlt, nicht die Therapeut:innen

Die ÖGK sagt, dass der magere Ausbau auch „vom beschränkten Angebot“ abhängt. Peter Stippl, Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP), entgegnet: “Wir als Berufsgruppe sind leistungsfähig und haben dreimal so viele Therapeut:innen wie der EU-Durchschnitt. Wir warten nur auf die Aufträge.“

Die Aufträge zu vergeben ist vielleicht das kleinere Problem. Die Aufträge zu bezahlen, das wichtigere. Stippl spielt den Ball der Regierung und ihrer stiefmütterlichen Finanzierung zu: „Die Kassen sind überfordert, das Budget der Sozialversicherungen ausgelastet, jetzt sollen auch noch die Beiträge heruntergesetzt werden”. Ein herber Verlust für die Versicherungsträger, was eine Vollversorgung in der Psychotherapie erschwert.

Stippl will die Kontingente in der Psychotherapie eigentlich ganz abschaffen: “Wer käme denn auf die Idee bei einem Herzinfarkt zu sagen, nur 5000 im Jahr zu behandeln, mehr aber nicht?“ Den psychisch Kranken fehlt eine Lobby und die Wahlkraft, die dafür sorgt, dass mehr Geld einfließt, so Stippl.

Viele müssen auf teilfinanzierte Therapie zurückgreifen – oder alles selbst zahlen

Bis mehr Gelder locker gemacht werden, müssen viele Betroffene weiterhin mit der Teilfinanzierung der Therapie durch die Kassen auskommen. Eine Einzeltherapiesitzung kostet zwischen 80 und 130 Euro, die Kassen zahlen 28 Euro (ÖGK) oder 40 Euro (SVS) zurück. Stippl gibt an, dass 30% der Therapien zum Teil rückerstattet werden, weitere 20% der Betroffenen zahlen vollständig selbst.

Viele können sich das nicht leisten. Dazu gehört auch Anna*, eine 29-jährige Grazerin, die unter Orthorexie leidet. Bei dieser Essstörung verspürt sie den Zwang, nur sehr gesundes Essen zu sich nehmen zu müssen. Anna studiert und verdient 700 Euro im Monat als Teilzeit-Assistenzlehrerin. Ihre Essstörung begleitet sie im Alltag: „Ich muss im Unterricht ständig an meinen Körper denken, es vereinnahmt mich bei der Arbeit total”, sagt sie.

Weil sich die wenigen Kassenärzt:innen in der Steiermark nicht mit ihrer Krankheit auskennen und sie selbst bei der Studierendenberatung auf sechs Wochen Wartezeit vertröstet wird, zahlt sie ihre Therapie selbst. Von der ÖGK bekommt sie von den 100 Euro pro Einheit voraussichtlich 28 zurück. Weil sie so wenig verdient, kann sie sich nur zwei Sitzungen im Monat leisten, dabei bräuchte sie mehr. Anna hat große Angst, vollständig arbeitsunfähig zu werden. “Ich möchte nur weiterhin meinen Beruf ausüben und mir ab und an mal neue Kleidung kaufen.“

Ein Investment in die Psychotherapie würde sich langfristig rechnen

Psychotherapie ist aber nur dem Schein nach teuer. Denn psychische Erkrankungen sind nicht nur für Probleme im Alltag und der Arbeitswelt verantwortlich – sie verursachen zum Beispiel auch rund zwei Drittel aller Frühpensionen. Staatskosten, die man laut Stippl mit Psychotherapie verhindern könnte. Eine Studie vom Rechnungshof aus dem Jahr 2019 belegt: In der Steiermark, wo die Versorgung schlecht ist, sind die Kosten für psychisch bedingte Frühpensionierungen, Medikamentenkosten und Krankenstände doppelt so hoch wie in Salzburg. Für Stippl ist der Zusammenhang klar: Wenn weiterhin bei der Therapie gespart wird, bekommt der Staat im Budget später die Quittung.

Manfreds Geschichte bestätigt das: Während er mit seinem Unternehmen früher Steuern zahlte, arbeitet er jetzt geringfügig als Lieferant, um über die Runden zu kommen. „Ich möchte ja arbeiten, aber ohne Therapie fehlt mir die Kraft dazu. Ich kann keine Deadlines mehr einhalten.“ Manfred wünscht sich, dass seine Krankheit mit der gleichen Selbstverständlichkeit behandelt wird, wie eine Grippe.

13 Millionen Euro Zuschuss für Kinder und Jugendliche: „Wir brauchen mindestens eine Null mehr hinten dran.“

Eine weitere Stellschraube, die in Zukunft Kosten vermeiden könnte, ist die Versorgung psychisch kranker Kinder. Wie Anna, die schon im Kindesalter mit einer Angststörung zu kämpfen hatte, sind besonders junge Menschen vom Seelenleid betroffen. Auch hier diente die Pandemie als Katalysator. “Die psychosoziale Entwicklung in der Pubertät wurde durch Covid extrem beeinträchtigt”, so Barbara Haid, die ebenfalls im Präsidium des ÖBVP tätig ist und deren Schwerpunkt in der Kinder- und Jugendbetreuung liegt. Zwischenergebnisse einer Befragung der Donau-Uni Krems zeigen: 60% der Mädchen leiden unter depressiven Symptomen, bei Burschen sind es 40%. Auch die Zahl der Angst-, Schlaf- und Essstörungen hat im vergangenen Jahr bei den 14- bis 20-jährigen zugenommen.

“Die Bundesregierung hat im Juli 2021 zusätzliche 13 Mio. € für die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die besonders von der Pandemie betroffen sind, bereitgestellt”, gibt das Sozialministerium gegenüber MOMENT an. Laut Haid ist das mindestens eine Null zu wenig. “Die junge Generation fragt sich: wo ist das Geld?” Bisher sei noch kein Cent davon in Auftrag. Dabei würde sich eine schnelle Investition auch hier rechnen. “Eine Psychotherapie für ein Kind kostet im Jahr 3000 Euro.” Wenn die Probleme überhandnehmen, wird das viel teurer: “Das sind sechs Tage auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie.” Je früher ein Kind eine Therapie beginnen würde, desto höher seien die Erfolgschancen, dass es gesund erwachsen wird. Das Sozialministerium will allerdings noch bis 2022 mit dem Projekt warten. Währenddessen warten laut einer Studie 88.000 Kinder auf einen Therapieplatz.

Psycholog:innen könnten aushelfen – doch das sieht das Gesetz nicht vor

Neben den Psychotherapeut:innen sind auch klinische Psycholog:innen oder Gesundheitspsycholog:innen dazu befähigt, psychisch kranke Menschen zu behandeln. Der Berufsverband Österreichischer Psycholog:innen forderte bereits im letzten Jahr, dass auch diese endlich Kassenverträge bekommen, damit mehr Menschen versorgt werden, MOMENT berichtete.

Doch das würde eine Gesetzesänderung erfordern. Das ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) sieht für Diagnosen von klinischen Psycholog:innen eine Finanzierung durch die Kassen vor. Die Behandlung umfasst das Gesetz allerdings nicht. Vonseiten des Ministeriums heißt es gegenüber MOMENT: “Das Gesundheitsministerium arbeitet an einer Gesamtlösung zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung in Österreich, welcher auch diesen Aspekt berücksichtigen soll”.

Psychische Erkrankungen bleiben Stiefkind

Während das Sozialministerium arbeitet, hat Manfred keine Kraft mehr zu arbeiten. Anna arbeitet und muss ein Viertel ihres Lohns für ihre Therapie aufbringen, um das weiterhin zu können. Die Frage ist, wie lange sie das noch aushält. Ein Viertel der Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, geht gar nicht zur Therapie. Wenn ihre Krankheit ausbricht und dienstunfähig macht, zieht das einen größeren finanziellen Rattenschwanz nach sich, als die Abschaffung der Kontingente.

Ach ja: Und menschliches Unglück.

Leidest du unter Depressionen oder hast Suizidgedanken? Bitte wende dich an die Telefonseelsorge, kostenlos stehen dir Berater:innen rund um die Uhr unter 142 zur Verfügung. Es gibt auch Beratungen über Chat und Mail.

Auch die Expert:innen des Kriseninterventionsteams stehen für eine Beratung von Montag bis Freitag unter +43 1/ 406 95 95 zur Verfügung. Auch hier ist eine anonyme E-Mail Beratung möglich.

Die psychologische Helpline des Berufsverbandes Österreichischer Psycholog:innen ist Montag bis Donnerstag von 9 bis 13 Uhr unter +43 1 /504 8000 erreichbar.

*Name von der Redaktion geändert.

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