Tourismus in Österreich: Zwischen Rekord-Nächtigungen und Arbeitsunsicherheit

Wenn in Österreichs alpinen Urlaubsregionen die Sonne aufgeht, beginnt für viele Gäste ein idyllischer Tag. Für die Angestellten in der Gegend hingegen bedeutet das oft Stress, Überstunden und Unsicherheit. Österreichs Tourismusbranche boomt: Im Jahr 2024 wurden über 154 Millionen Nächtigungen gezählt und übertrifft damit sogar das bisherige Rekordjahr von 2019.
Doch hinter den Hochglanzbildern steckt ein System, das oft auf der Unsicherheit seiner Beschäftigten aufgebaut ist. In Tourismushochburgen wie Tirol oder Salzburg, aber auch Wien und Kärnten und andere Regionen sind tausende Menschen nur für die Saison angestellt – mit unklaren Perspektiven, niedrigen Löhnen und oft schlechten Wohnbedingungen.
„Mädchen für alles“
Jakub* kommt aus Polen und arbeitet seit Jahren als Saisonkraft in Tirol und in anderen europäischen Ländern. Offiziell als Rezeptionist eingestellt, war er in einem Tiroler Hotel, wie er erzählt, „ein Mädchen für alles“. Neben der Arbeit am Empfang half er beim Putzen, Wäschewaschen, Müllsortieren oder beim Einkauf. „Manchmal hatte ich nur ein paar Stunden Arbeit, an anderen Tagen zwölf. Im Vertrag standen 40 Stunden an fünf Tagen pro Woche, aber die Realität war unberechenbar.“
Viele seiner Kolleg:innen aus Polen kündigten mitten in der Saison – zu hoher Druck, zu chaotische Abläufe, zu wenig Personal, berichtet Jakub. „Unsere Chefs lebten im Ausland und sprachen kaum mit uns. Wenn sie mal da waren, wurde alles noch hektischer. Wir waren unterbesetzt und schlecht organisiert.“
Jakub hatte zumindest eine kostenlose Unterkunft, auch wenn sie einfach war: ein ausgebauter Dachboden, den er sich mit einem Kollegen teilte. „Wir haben ihn mit Decken in zwei Hälften geteilt. Es war nicht schlimm, aber manchmal eng. Immerhin durften wir Reste vom Frühstück essen – das hat viel Geld gespart.“
Er sieht die Saisonarbeit pragmatisch: Sie ermöglicht ihm, Geld zu sparen, was in seiner Heimat Polen kaum möglich wäre. „Dort steigen die Mieten, als Saisonkraft kann ich immerhin ein bisschen was zurücklegen.“
Vom Dauerstress zum Ausstieg
Thomas, der mehrere Jahre in Tiroler Skigebieten gearbeitet hat, spricht von einem ein System, das auf Verschleiß ausgelegt ist: Sechs- bis Sieben-Tage-Wochen, kaum Freizeit, fünf Monate Dauerstress. Er ist vor einigen Jahren aus der Saisonarbeit ausgestiegen, weil ihm der Druck zu hoch wurde.
„Klar, man verdient in der Saison nicht schlecht“, sagt er. Aber das meiste geht für die Miete drauf. Denn Thomas lebt das ganze Jahr in Österreich. Während Saisonkräfte oft eine Unterkunft vom Betrieb bekommen, muss er seine Wohnung auch außerhalb der Saison finanzieren. Sein Wunsch an die Politik ist klar: höhere Mindestlöhne und bessere Arbeitsbedingungen. Sonst leide die Qualität der ganzen Branche.
Das System hinter der Unsicherheit
Domenico Rief von der Arbeiterkammer (AK) Tirol bestätigt, dass Saisonarbeit tief im Tourismus verankert ist. Viele Betriebe sind von den Hochsaisonen abhängig. Das allein erklärt die schlechten Bedingungen aber nicht.
Die Arbeitszeiten sind oft in Früh- und Spätschichten geteilt, die Freizeit dazwischen ist kaum nutzbar. „Das ist nicht sehr arbeitnehmerfreundlich“, so Rief. Hinzu kommt die Bezahlung: 2023 lag der mittlere Jahreslohn (Median) im Tourismus bei nur 14.953 Euro brutto. Das sind gerade einmal 43 Prozent des Medians aller Branchen, der bei 34.501 Euro lag.
Auch die Altersstruktur zeigt das Problem: „Die Beschäftigten im Tourismus sind sehr jung. Mit zunehmendem Alter wechseln sie in andere Branchen, weil sie mehr Planungs- und Geldsicherheit brauchen“, erklärt Rief. Auffällig ist auch der hohe Anteil ausländischer Arbeitskräfte, der in Tirol bei 64 Prozent liegt.
Zwischen Abhängigkeit und Erschöpfung
Thomas und Jakub beschreiben ein Gefühl, das viele Saisonkräfte kennen: Abhängigkeit. Wer in einer Unterkunft des Arbeitgebers wohnt, ist ausgeliefert – besonders in abgelegenen Bergregionen ohne gute öffentliche Verkehrsmittel. „Manche Kolleg:innen, die früher kündigten, hatten Probleme, nach Hause zu kommen, obwohl uns ein kostenloser Rücktransport versprochen wurde“, sagt Jakub.
Die Folgen dieser Bedingungen sind auch gesundheitlich dramatisch, wie Studien der AK Tirol zeigen: „Die höchste psychische und zweithöchste physische Belastung aller Branchen findet sich im Tiroler Hotel- und Gastgewerbe“, so Experte Rief. 44 Prozent der Beschäftigten leisten regelmäßig Überstunden und arbeiten sechs Tage die Woche. Schlafmangel, Stress und Erschöpfung sind Alltag.
Wer zahlt den Preis für den Boom?
Was oft vergessen wird: Dieses System ist auch für die Gesellschaft teuer. „Das ‚Parken‘ von Beschäftigten beim AMS zwischen den Saisonen geht auf Kosten der Arbeitslosenversicherung”, kritisiert Rief. Diese wird von allen bezahlt, aber vom Tourismus überdurchschnittlich stark genutzt.
Zum Vergleich: In Tirol arbeiten fast so viele Menschen im Tourismus wie in der Industrie (13 Prozent aller Beschäftigten). Der Tourismus trägt aber nur vier Prozent zur gesamten Lohnsteuer bei, die Industrie hingegen 22 Prozent.
Die Werbung zeigt glückliche Teams in Tracht. Die Realität sieht oft anders aus: schlaflose Nächte, enge Zimmer und schlecht planbare Dienste. „Das ist nicht mehr meine Welt“, sagt Thomas über seinen Ausstieg.
Es braucht ein Umdenken in der Branche
Aus Sicht des AK-Experten Rief braucht es ein Umdenken: Statt nach mehr Arbeitskräften aus Nicht-EU-Ländern zu rufen, sollte sich die Branche fragen, warum sie im EU-Markt mit 450 Millionen Menschen niemanden finde, sagt Rief.
Die Antwort liegt auf der Hand: die schlechten Arbeitsbedingungen.
Es gäbe bereits Modelle für eine ganzjährige Anstellung oder flexiblere Arbeitszeiten, die aber viel zu selten genutzt werden. Die schlechten Arbeitsbedingungen sind kein regionales Problem, sondern ein österreichweiter Trend, der sogar im Tourismusbericht des Wirtschaftsministeriums angesprochen wird.
Profite auf wessen Kosten?
Das Wachstum und der Profit im Tourismus geht vor allem auf Kosten der Beschäftigten. Solange die Branche auf kurzfristige Gewinne und maximale Flexibilität setzt und die Kosten dafür an die Allgemeinheit auslagert, bleiben jene auf der Strecke, die den Erfolg ermöglichen.
Und während die Gäste den Sonnenuntergang genießen, beginnen im Tal schon die Vorbereitungen für den nächsten Tag – wieder einmal zu früh, für zu wenig Geld und mit der Frage: Wie lange geht das noch gut?