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Demokratie

Pressefreiheit und soziale Medien: Politik ist, wenn du angezogen bleibst

Im Hintergrund sieht man ein großes, grünes M. Davor ist ein junger Mann mit Brille und Hemd, der zur Seite blickt
Soziale Medien sind Segen und Fluch gleichzeitig - nicht nur für die Gesellschaft. Medien profitieren von Instagram & Co., sind dabei aber der Willkür von Mega-Konzernen ausgesetzt. Eine kleine Umstellung zeigt, wie schnell die Pressefreiheit online wackeln kann.

Vor einem Jahr habe ich das Wort “Analsex” auf einem Instagram-Bild verwendet – ohne mit unserer Social Media-Chefin Rücksprache zu halten. Es folgten Schweißausbrüche, Belehrungen, Vorwürfe. Wie konnte ich das nur riskieren?

Wer sich professionell mit sozialen Medien beschäftigt, kann die Aufregung nachvollziehen. “Böse” Wörter führen schnell zu einer Strafe – dem “Shadowban”. Inhalte werden zwar noch ausgespielt, aber kaum Menschen angezeigt. Die Zahlen gehen runter, die Nervosität steigt. Denn genau kann man nie sagen, woran so ein Shadowban liegt – und ob einen der Algorithmus dieses Mal vielleicht doch für immer hasst.

Die Angst vor der Bestrafung treibt wundersame Blüten. Um sie zu umgehen, vermeidet man Wörter oder verwendet eine andere Schreibweise. Aus “töten” wird “tøten”, aus “Sex” “seggs”. Oder man erfindet gleich neue Ausdrücke. Auf TikTok hört man das Wort “suicide” längst nicht mehr, stattdessen wird “unaliving” gesagt.

Wer hat Angst vor Analsex?

Doch man arrangiert sich. Und lernt, mit der Unsicherheit der Algorithmen und Bewertungen zu leben. 

Denn Wahl haben wir Medien keine. Besonders nicht ein vergleichsweise kleines Online-Medium wie MOMENT.at. Viel zu wichtig ist Social Media für die Reichweite. Und wird es in Zukunft auch bleiben. Mehr als zweieinhalb Stunden verbringen Menschen unter 29 Jahren in Österreich täglich auf sozialen Medien. In der Gesamtbevölkerung ist es etwas mehr als eine Stunde.

Kein Medium kann es sich erlauben, auf eine Social-Media-Strategie zu verzichten. Auch aus eigenem Antrieb – denn man will die Menschen dort abholen, wo sie sich aufhalten.

Gesund ist diese Abhängigkeit nicht. Und stabil schon gar nicht, wie eine scheinbar “kleine” Umstellung von Meta zeigt.

 

 
 
 
 
 
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Im Februar hat das Unternehmen angekündigt, politische Inhalte auf Instagram und Threads nicht mehr algorithmisch zu verstärken. Das bedeutet: Nutzer:innen sehen solche Inhalte nur mehr von den Accounts, denen sie auch folgen – wenn überhaupt. Denn der Algorithmus bestimmt bereits hier, wo und wie man ausgespielt wird. Wer darüber hinaus informiert werden will, muss das in einem gut versteckten Untermenü aktivieren (wie das geht, zeigen wir dir hier).

Kurz vor dem Tag der Pressefreiheit, in einem der wichtigsten Wahljahre aller Zeiten, in Zeiten von explodierender Desinformationskampagnen, wurde auf einer der wichtigsten Informationsplattformen für junge Menschen die Sichtbarkeit von politischen Inhalten empfindlich eingeschränkt. Die Umstellung ist jetzt aktiv. 

Die Begründung dafür? Instagram käme sonst nicht mit der Moderation nach. Und schließlich verdiene man daran nichts.

Algorithmus und Pressefreiheit – Beziehungsstatus: kompliziert

Manche von uns können sich noch daran erinnern: Für kurze Zeit haben das Internet und soziale Medien die Hoffnung auf ein “globales Dorf” geweckt. Die Menschheit rückt weiter zusammen. Alle Meinungen werden gehört, ein offenerer Austausch ist möglich und die Auswahl von Nachrichten wird nicht mehr von wenigen, tendenziell wohlhabenden, weißen und männlichen Menschen bestimmt.

Im Nachhinein ist man immer klüger. Aber zumindest zum Teil wurden die Versprechen erfüllt. Junge Medien wie MOMENT.at und einzelne Medienschaffende können auf Social Media mit traditionellen Medien mithalten und konkurrieren. Inhalte, für die wir stehen, arbeiten und kämpfen, erreichen in sozialen Medien schonmal Millionen von Menschen.

Ohne soziale Medien wäre das völlig undenkbar.

Instagram ist vermutlich unsere wichtigste Plattform – und wir würden die Menschen dort gerne weiterhin so informieren wie bisher.

Ist das jetzt nur Gejammere, weil wir selbst betroffen sind? Natürlich. Aber nicht nur. Die Probleme greifen tiefer.

Politik ist, wenn du angezogen bleibst

Denn wer bestimmt, was auf Instagram politisch ist? Natürlich Instagram selbst. Das Unternehmen erklärt aber nicht genauer, was damit gemeint ist. Laut einem Blogpost des Unternehmens sind Sachen wie “Gesetze, Wahlen oder soziale Themen” betroffen. Also eh fast alles?

Mitnichten. Denn es kommt darauf an, wie man die Informationen präsentiert. Wenn sich meine Kolleginnen vor die Kamera stellen und über ihre Erfahrungen als Frau in einer von Männern geprägten Welt reden oder über Hoffnungsschimmer in der Klimakrise informieren, wird das natürlich als politisch eingestuft. Wenn aber ultrakonservative Frauen ihren Lebensstil glorifizieren, wie aktuell beim Tradwife-Trend, ist das nicht der Fall.

Werden wir uns in Zukunft halbnackt, beim Essen machen oder Schminken filmen müssen, um von Instagram als nicht politisch eingeschätzt zu werden? Manche Medien und Influencerinnen zeigen aktuell vor, dass genau das möglich ist und zu besseren Zahlen führt. Doch nicht alle wollen sich unbedingt für das Publikum ausziehen oder zum Affen machen. Das trotzdem zu machen, zeigt auf, was falsch läuft. Lösung ist es keine.

Andre Wolf vom Verein Mimikama im Live-Interview über Gründe und Auswirkungen der Instagram-Umstellung:

Die Hoffnung stirbt immer irgendwann

Doch Instagram ist ja zum Glück nicht die einzige Social-Media-Plattform.

Da gibt es noch Facebook (Anmerkung für jüngere Leser:innen: Es sind tatsächlich noch wesentlich mehr Menschen auf der Plattform aktiv, als man glauben würde). Dort wurden Nachrichtenseiten allerdings bereits vergangenes Jahr vom Algorithmus abgeschossen. Mittlerweile finden sich dort vor allem KI-Fotos von Jesus-Figuren aus Shrimps. Damit können wir nicht mithalten.

Eine Jesusfigur, die aus vielen kleinen Shrimps besteht

Eine von sehr, sehr vielen KI-generierten Jesuse aus Shrimps. Die Beiträge dominieren Facebook aktuell.

TikTok wird immer wichtiger als Informationsplattform für junge Menschen. Ob es die Plattform allerdings noch lange geben wird, ist unklar – in den USA könnte sie bald verboten werden. Ob zurecht oder nicht, sei dahingestellt. TikTok muss sich aber laufend mit Zensurvorwürfen herumschlagen.

Und Twitter (neuerdings “X”)? Dort bekommt man zwar auch nach der Übernahme durch ein größenwahnsinniges Kind im Erwachsenenkörper Reichweite. Die stammt hauptsächlich von Bots, die ihre Nacktfotos im Profil haben. Wir haben uns vor einiger Zeit schon dafür entschlossen, nicht mehr dort aufzutreten. Auf Mastodon und Bluesky erhält man noch nicht ganz dieselbe Reichweite.

Die Luft wird dünner

Die Abhängigkeit von Algorithmen wird durch die Maßnahmen auf Instagram für Medien und Journalist:innen noch größer. Sie werden ermuntert, nur mehr ganz bestimmte Inhalte in ganz bestimmter Form auf den Plattformen zu zeigen. Das wird Qualitätsmedien einschränken – und einen Raum öffnen, den andere bespielen werden. Das Argument “keine politischen Inhalte bringt wenigstens keine Fake-News” wird nicht aufgehen.

Solche Entwicklungen gefährden die Demokratie viel mehr, als es für viele den Anschein hat. Es läge im Interesse einer aufgeklärten Gesellschaft und Politik, dass Menschen mit gesicherten Informationen versorgt werden. Doch unternommen wird kaum etwas. Die EU sorgt zumindest dafür, dass die Plattformen stärker und schneller gegen Hasspostings vorgehen müssen. Aber das Zurückdrängen von politischer Information wegen mangelnder Moderation kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein – im Gegenteil. Wir brauchen von beidem mehr, nicht weniger.

Einen Shadowban bekamen wir wegen “Analsex” übrigens keinen. Doch während diese Zeilen geschrieben werden, verzweifelt das Social-Media-Team über einen Artikel zu Rechtsextremismus und Islamismus. Facebook schränkt ihn bereits ein. Für Instagram müssen wir uns noch etwas überlegen. Vielleicht gibt es doch bald eine Kochshow.

Du willst, dass Medien wie wir weniger vom Algorithmus abhängig sind? Das kannst du machen:

  • Abonniere ihre Newsletter. Die liefern dir die wichtigsten Geschichten ohne Umwege.
  • Sortiere deine Timelines in sozialen Medien chronologisch.
  • Aktiviere politische Inhalte auf Instagram
  • Schau ab und an auch direkt auf die Websites der Medien
  • Folge ihnen auf unterschiedlichen Plattformen. Wir sind etwa nicht nur auf Instagram, Threads und Facebook, sondern auch auf Bluesky, Mastodon und YouTube.

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