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Ungleichheit

EU-Migrationsdeal mit Tunesien: “Absurd, dass Europas Grenze mittlerweile bis in die Sahara reicht“

EU-Migrationsdeal mit Tunesien: “Absurd, dass Europas Grenze mittlerweile bis in die Sahara reicht“
Migrationsforscherin Judith Kohlenberger (C) Christian Lendl
Die Europäische Union will wieder einmal die Schlepperei stoppen und tut sich als Wohltäterin hervor. 900 Millionen Euro soll Tunesien für den Kampf gegen die illegale Migration bekommen. Der am Sonntagabend unterzeichnete Migrationsdeal sei eine “Investition in Stabilität und künftige Generationen”, jubelt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Man teile "strategische Interessen" – auch in turbulenten Zeiten.

Strategische Interessen stecken ganz bestimmt dahinter. Welche das sind und ob diese auch moralisch vertretbar sind, erklärt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im Gespräch mit MOMENT.at.

MOMENT.at: Um was geht es im Migrationsdeal der EU mit Tunesien?  

Judith Kohlenberger: Die Details des Abkommen, auch wenn die EU recht vollmundig eine Einigung verkündet, sind nicht bekannt. Eine wichtige Säule dabei ist, dass sich Tunesien im Kampf gegen die Schlepperei einsetzt. Es soll härter gegen sogenannte illegale Migration vorgegangen werden.

Aber was genau das im Kern bedeutet, das ist überhaupt nicht klar. Wenn man die EU-Türkei-Erklärung als Vorbild nehmen würde, würde das bedeuten, dass Tunesien viel Geld bekommt, damit Menschen dort dauerhaft untergebracht werden, die eigentlich in die EU wollen. Das ist aber meines Wissens nicht der Fall, da sich Tunesien gegen eine langfristige Ansiedelung von Geflüchteten ausgesprochen hat. Die Menschen werden also in ihre Herkunftsländer zurückgeführt. Dabei kann Tunesien aber nur bedingt mitreden. Man hätte auch die Herkunftsländer in die Verhandlungen miteinbeziehen müssen. 

MOMENT.at: Wie bewerten Sie das Abkommen? 

Kohlenberger: Also de facto wissen wir nicht, was in der finalen Erklärung stehen wird. Es ist nicht klar, mit welchen Mitteln Menschen von der Überfahrt abgehalten werden. Und auch nicht, was mit den Menschen in Tunesien tatsächlich passiert, wenn sie nicht rückgeführt werden können. 

Die 2016 beschlossen EU-Türkei-Erklärung hat zwar kurzfristig zu einem Rückgang der Asylantragszahlen in der EU geführt. Aber mittel- und langfristig war es kein Erfolgsrezept. Sonst würden wir ja nicht wieder den hohen Anstieg an Asylanträgen in Europa diskutieren und einen Integrationsgipfel nach dem anderen abhalten. Die damalige Lösung war also nicht nachhaltig und dasselbe Problem droht bei dem jetzigen Abkommen wieder. Man macht sich abhängig von einem autokratischen Drittstaat mit zweifelhafter Menschenrechtslage. 

Zudem muss bedacht werden, dass die geopolitische Lage heute eine ganz andere ist als 2016. Durch die russische Aggression ist die Lage sehr fragil. Als EU muss man sich sehr genau überlegen, mit wem man Abkommen schließt, um sich nicht erpressbar zu machen. 

MOMENT.at: Welche Alternativen gäbe es zu so einem Deal? 

Kohlenberger: Wenn man wirklich das Sterben im Mittelmeer beenden und die Schlepperei bekämpfen will – das gibt man ja vor – muss sich das geltende System grundlegend verändern. Man müsste den Menschen, die ja aufgrund humanitärer Konflikte und Vertreibung flüchten, legale Fluchtrouten anbieten. Damit würde man das Geschäft der Schlepper dauerhaft und effektiv bekämpfen. Eine solche Lösung wird aber nicht einmal diskutiert. Das liegt wiederum daran, dass es innerhalb der 27 Mitgliedsstaaten keinerlei Konsens gibt. Einige EU-Staaten wie Polen und Ungarn sprechen sich strikt dagegen aus, freiwillig Geflüchtete aufzunehmen. 

Zum anderen muss die Seenotrettung ausgebaut und auf europäische Beine gestellt werden. Nicht wie bis dato, irgendwelchen NGOs überlassen werden. Beispielsweise könnte die Grenzschutzagenutur „Frontex“ die Seenotrettung in den Fokus stellen. 

Neben den legalen Fluchtrouten wären aber auch legale und diversifizierte Migrationswege nach Europa sinnvoll. Fakt ist nämlich, dass viele der geflüchteten Menschen in Europa keinen Schutz bekommen werden. Da die meisten aber gar kein Asyl, sondern arbeiten wollen, werden sie schwarz beschäftigt. Das heißt, dass sie nicht versichert sind und keine sozialen Rechte haben. Das ist ohne Zweifel Arbeitsausbeutung und reicht bis hin zu moderner Sklaverei. Und das, obwohl wir die Arbeitskräfte in Österreich sogar bräuchten. Das große Problem liegt dabei im Asylwesen und, dass der Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt viel zu große Hürden mit sich bringt. Nur ein Beispiel dafür ist, dass man ein relativ hohes Deutschniveau nachweisen muss, obwohl ein solches in vielen, vor allem manuellen Berufen gar nicht benötigt wird. 

MOMENT.at: Man kann also sagen, dass dieser Deal viel verspricht, aber wahrscheinlich wenig halten wird. Könnte er eher negative Konsequenzen haben?

Kohlenberger: Für die Betroffenen sowieso, aber auch für die Union, glaube ich. Die ohnehin starke Fragilität wird weiterhin aufs Spiel gesetzt. Das betrifft die Glaubwürdigkeit, aber vor allem die Rechtsdurchsetzung an den EU-Außengrenzen. Diese wird untergraben. Man unterstützt ein Regime, von dem man weiß, dass es Menschen- sowie Freiheitsrechte verletzt. Man lagert das Problem immer weiter aus. Es ist absurd, dass die europäische Grenze mittlerweile bis weit in die Sahara hineinreicht. 

MOMENT.at: Was ist der Hintergrund des Abkommens?

Kohlenberger: Das aktuelle Abkommen steht ganz klar vor dem Hintergrund der EU- Wahlen im nächsten Jahr. Da nun in einigen Ländern rechtspopulistische Parteien starke Zuwächse verzeichnen, fürchtet man das auch auf europäischer Ebene. Zudem hat Ungarn bald die Ratspräsidentschaft inne, was ein Vorankommen in Sachen Migration komplett stoppen könnte. Die EU-Kommission versucht also Standpunkte rechts von der Mitte zu übernehmen, um die Erfolgsaussichten von rechten Parteien zu schmälern.  

Die politikwissenschaftliche Forschung zeigt aber ganz deutlich, dass das ein Fehlschluss ist. Das Einzige, was damit bewirkt wird, ist eine Normalisierung des Diskurses von rechts der Mitte. Indem man das jetzige Vorgehen forciert und auch von höchster politischer Ebene als quasi alternativlos darstellt, wird es auch in Zukunft immer schwerer, Alternativen zu denken oder überhaupt umzusetzen. Das ist sehr gefährlich. Denn es ist eine Illusion ist zu glauben, man würde rechten Parteien damit schaden. Die gewinnen trotzdem.  
 

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