Barrierefreies Reisen – nur in der Werbung?

Martha Riedel reist einmal im Jahr mit dem Zug in den Urlaub. Ihre Strecke von Wien nach Villach kennt sie gut, auch den Waggon mit der barrierefreien Toilette. Für ihren letzten Urlaub im August 2025 wollte sie wie immer rechtzeitig einen Platz im Rollstuhlabteil buchen. Dort muss sie ihren Rollator nicht falten und kann das WC ohne Hilfe benutzen. Sie rief also bei der ÖBB-Kundenservice-Hotline an. Die Antwort der ÖBB-Mitarbeiterin traf die Wienerin unerwartet: „Wollen Sie wirklich jemandem den Platz wegnehmen, der nicht gehen kann?“
Viele Reise-Anbieter versprechen Inklusion oder werben gar damit – in der Praxis scheitert barrierefreies Reisen dann oft trotzdem. Das zeigen die Beispiele von Riedel und zwei weiteren Wienerinnen.
Seit etwa fünf Jahren benötigt Riedel eine Gehhilfe. Sie möchte hier nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden, um ihre Privatsphäre zu wahren. „Ohne meinen Rollator kann ich wirklich nicht gehen“, erklärt die Ergotherapeutin. Sie ist eine von derzeit rund 760.000 Menschen mit registrierter Behinderung in Österreich. Und eine der rund 13.500 Personen mit der Diagnose Multiple Sklerose (MS). Die Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems verläuft so individuell, dass MS auch die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ genannt wird.
Wenn die Gehhilfe zum Hindernis wird
Den Platz wegnehmen wollte Riedel niemandem auf ihrer Reise vom Meidlinger Hauptbahnhof bis nach Villach. Die ÖBB betonen auf ihrer Website, allen Menschen komfortables Reisen zu ermöglichen. Die Mitarbeiter:innen im Kundenservice seien entsprechend geschult.
„Wenn ich ohne Begleitperson unterwegs bin, ist es mir wichtig, nicht auf Unterstützung von Fremden angewiesen zu sein“, sagt sie. Sie braucht mehr Zeit für viele Dinge. Dazu gehört auch der Toilettengang. Sie hat einen schlechten Gleichgewichtssinn und klärt daher schon vor einer Reise ab, in welcher Station der Zug lang genug steht, damit sie das WC nutzen kann. Kann sie die Tür nicht öffnen oder die Kabine nicht mit ihrem Rollator erreichen, muss die Wienerin oft andere Fahrgäste um Hilfe bitten, erzählt sie. Denn die Zugbegleiter:innen seien häufig gestresst und beschäftigt.
Die ÖBB betonen auf Anfrage von MOMENT.at, dass bis 2026 neun von zehn Reisezügen barrierefrei sein sollen. Derzeit seien es acht von zehn. Zum konkreten Fall von Martha Riedel äußert sich das Unternehmen nicht.
In einer Nachricht des Unternehmens an die Kundin heißt es: Die Reise im Rollstuhlabteil sei möglich, sofern ein Platz frei ist. Eine Zusage vorab gibt es nicht.
Am Weg nach Villach hatte die Pensionistin letztlich Glück. Das Abteil war beinahe leer, sie konnte einen Platz im Rollstuhlabteil nutzen. „Die Ungewissheit bedeutet aber Stress für mich“, sagt sie.
Mit dem Rollstuhl über Schotter?
Nicht mit dem Zug, sondern mit dem Auto reiste Monika Chytil im Mai zur Hochzeit ihrer Nichte. Die Wienerin benötigt seit 2020 einen Rollstuhl. In einem Landhotel in der Wachau, nahe der Hochzeitslocation, hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann mehr als ein halbes Jahr im Voraus ein barrierefreies Zimmer gebucht.
Haltegriffe im Bad, eine befahrbare Dusche mit Sitz – all das hatte sie telefonisch geklärt. Normalerweise könne sie sich auf die Informationen zur Ausstattung von Hotels verlassen, zumindest bei telefonischer Nachfrage, sagt sie. „Manche Hotels rufen sogar zurück, weil sie die Türbreite erst nachmessen müssen.“ Doch das Zimmer in der Wachau konnten Monika Chytil und ihr Ehemann nicht nutzen. Sie mussten noch in der Nacht der Hochzeit abreisen: „Ich habe mich furchtbar geärgert“, sagt sie.
Im Hotel zeigte ein Mitarbeiter dem Paar mehrere Zimmer. In keinem waren Haltegriffe im Bad angebracht, es gab keinen geeigneten Duschsessel. Die barrierefreie Toilette war nur über einen unbeleuchteten Kiesparkplatz erreichbar. „Ich dachte, das kann nicht ihr Ernst sein – dass ich mit dem Rollstuhl in der Nacht über einen geschotterten Parkplatz fahren soll“, sagt sie.
Hotel wundert sich
Auf Anfrage erklärt die Hotelinhaberin, dass zwei der insgesamt 40 Zimmer mit Haltegriffen ausgestattet seien. Das Hotel verfüge über einen Lift sowie eine barrierefreie Zufahrt: „Alles ist ebenerdig erreichbar, sozusagen barrierefrei“, sagt die Hotelierin. Warum Chytil kein entsprechendes Zimmer erhalten habe, könne sie nicht sagen.
Das mit dem geschotterten Parkplatz sei schon richtig: „Wir wollten nicht alles zupflastern.“ Die barrierefreie Toilette könnten Gäste mit einem Rollstuhl auch über einen Spazierweg erreichen, sagt die Besitzerin. Dieser Weg sei allerdings noch weiter als der direkte über den Parkplatz – für Monika Chytil keine zumutbare Alternative zu einer Toilette am Zimmer.
Chytil sagt rückblickend: „Wir haben gelernt, dass das, was jemand als barrierefrei empfindet, nicht immer barrierefrei ist.“ Klagen will die 66-Jährige das Hotel nicht. Nur aufzeigen: „Inklusion“ sei oft noch eine schöne Worthülse.
Lieber nicht nach einem Kühlschrank fragen
Keine Überraschungen wollte Daniela Huber auf ihrer Reise erleben. Sie heißt in Wirklichkeit anders, macht sich aber Sorgen um mögliche Nachteile, wenn sie hier mit richtigem Namen auftaucht. Die Wiener Lehrerin plante einen besonderen Trip anlässlich des siebzigsten Geburtstags ihrer Mutter. Das Geschenk: Eine Übernachtung in einem Leuchtturm in Schweden mit ihrer Mama, deren bester Freundin und Hubers Partner. Die Unterkunft buchte Huber auf der Plattform AirBnB, dem Gastgeber schickte sie vorab eine Liste mit Fragen: „Ich wollte alles gut organisieren für Mama“, sagt sie. Eine ihrer Fragen betraf den Kühlschrank.
Die 37-Jährige hat MS. „Ich gehe gerne laufen, schwimmen und wandern“, sagt sie. „Und habe mich gefragt: War es das jetzt damit?“ Dieses Schreckensbild stamme aber aus einer Zeit, in der MS noch nicht so gut behandelbar war wie heute. Huber braucht drei Spritzen in der Woche, die unter 25 Grad gelagert werden müssen. Auf Reisen hat sie deshalb eine kleine Kühlbox dabei, die aussieht wie eine Thermoskanne und die sie mit Powerbanks betreiben kann. „Es ist eine Schlepperei, aber immer noch klein und praktisch“, sagt sie.
Ist in einer Unterkunft ein Gefrierfach vorhanden, müsse sie ihre Powerbanks nicht mitnehmen. Das spare Gewicht. Aber auf ihre Anfrage hin stornierte der Host ihre Buchung: „Wir befürchten, dass das Risiko in Bezug auf Medikamente zu hoch wird, und empfehlen daher einen anderen Ort.“ Auch ein ärztliches Attest, das Huber daraufhin vorlegte, änderte nichts – kurz darauf wurde das Zimmer neu vergeben.
AirBnB gelobt Besserung, gehandelt wurde noch nicht
„Es war das erste Mal, dass ich Diskriminierung selbst erlebt habe“, sagt Huber. In Zukunft werde sie ihre Powerbanks mitnehmen und gar nicht mehr nachfragen. „Es ist absurd, dass es nachteilig ist, offen über seine Bedürfnisse zu sprechen“, sagt sie. „Ich bin doch keine Prinzessin, die Eiswürfel kühlt, sondern es geht um Medikamente.“
Auf Anfrage von MOMENT.at teilt AirBnB mit, man habe „keine ausreichenden Details erhalten, um diesen Bericht zu überprüfen.“ Man sei bemüht, Reisen barrierefreier zu gestalten – etwa mit 12 Suchfiltern für barrierefreie Merkmale und einem Prüfprozess für entsprechende Angaben. Diskriminierung nehme man sehr ernst. In gemeldeten Fällen würden „unverzüglich Maßnahmen ergriffen – bis hin zur Entfernung von Listings“, schreibt eine Sprecherin. Gemeldet hat Huber den Vorfall Mitte Juni, nachgefragt Mitte Juli. Eine Rückmeldung von AirBnB steht bei Redaktionsschluss noch aus. Die durch den Storno entstandenen Mehrkosten von 462 Euro hat AirBnB Daniela Huber bisher nicht erstattet.
Sie arbeite, zahle Steuern und sei ehrenamtlich engagiert, sagt Huber – „aber Urlaub machen? Da bin ich plötzlich ein Gesundheitsrisiko.“
Barrierefreiheit: Lücke zwischen Versprechen und Wirklichkeit
Drei Frauen, drei Erfahrungen – und alle zeigen: Zwischen dem Versprechen von Barrierefreiheit und der Realität klafft oft eine Lücke.
Der Österreichische Behindertenrat fordert umfassende Barrierefreiheit – und zwar über Rampen und Haltegriffe hinaus. Auch barrierefreie Informationen, Buchungssysteme, Sanitäranlagen oder Ticketautomaten seien notwendig, damit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen selbstbestimmt reisen können. Zwar habe sich in den letzten Jahren viel verbessert, doch es fehle weiterhin an einheitlichen Standards.