Ein Kinderpsychiater spricht: “Versorgung psychisch kranker Kinder ist eine Katastrophe”
Rainer Fliedl: In jedem Gespräch KollegInnen ist herauszuhören, dass die Lage schlimm ist. Die Studie soll dazu dienen, um der Öffentlichkeit das begreifbar zu machen – und wie es aussehen sollte. Die Zahlen sind im europäischen Vergleich eine Katastrophe, wir liegen hier weit hinter der Schweiz und Deutschland, geschweige denn skandinavischen Ländern. Wir können uns bei diesen Zahlen nur noch mit Entwicklungsländern vergleichen.
MOMENT: In der Steiermark und dem Burgenland gibt es etwa gar keine KinderpsychiaterInnen mit Kassenordination. Wie kann es sein, dass es in zwei Bundesländern keine KassenärztInnen in ihrem Fach gibt?
Fliedl: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Im Burgenland und der Steiermark ist das Versäumnis den jeweiligen Gebietskrankenkassen vorzuwerfen. In der Steiermark wurden viele Kinder- und JugendpsychiaterInnen ausgebildet, sie hätten wunderbar ein Netz von Niedergelassenen aufbauen können, doch die Krankenkasse hat hier einfach keine Stellen geschaffen. Auch im Burgenland wurde so quasi eine Niederlassung verhindert. Nun gibt es nur WahlärztInnen, doch diese können sich nicht alle Familien leisten.
Niederösterreich hat vorgezeigt, wie es gehen könnte. Bei dem Mangel an ÄrztInnen in diesem Bereich ist es nämlich auch wichtig, darauf zu achten, dass durch Kassenstellen nicht die Spitäler in Personalnot kommen. Hier gilt es abzuklären, ob gerade JungärztInnen kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung stehen und auch Interesse an einer Kassenstelle hätten. In Wien ist etwa durch die um Jahre verschleppte Fertigstellung der Klinik Floridsdorf passiert, dass alle ÄrztInnen, die dafür ausgebildet wurden, verloren gegangen sind – die haben sich Jobs im Ausland gesucht. Nun bringt die Klinik die Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht zum Laufen, weil sie einfach keine FachärztInnen findet.
MOMENT: Werden also zu wenige Kinder- und JugendpsychiaterInnen ausgebildet?
Fliedl: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt als Mangelfach. Hier müsste etwas in der Ausbildung geändert werden: Für gewöhnlich sollte ein Facharzt oder eine Fachärztin einen Assistenten oder eine Assistentin ausbilden. Die Ausbildung dauert außerdem sechs Jahre. Es müssten angesichts des Mangels aber unbedingt zwei anstatt nur einem oder einer ausgebildet werden. Dagegen wehren sich dann aber die Krankenhausträger und Länder, die dann auch mehr Stellen in den Abteilungen schaffen müssten. Im Prinzip geht es darum, wer die Ausbildungsplätze finanziert. Das AKH Wien könnte locker doppelt so viele ausbilden, da müsste es aber ein OK vom Gesundheitsministerium geben.
Es ist in Österreich leider typisch, dass es viele Verantwortlichen wie die Bundesländer, Krankenkassen oder Krankenhausträger gibt. Die schieben das Problem gern auf die anderen, anstatt sich zusammenzusetzen und gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten. Wenn sich nicht bald etwas ändert, können wir nicht einmal die vielen Kinder- und JugendpsychiaterInnen ersetzen, die nun bald in Pension gehen.
MOMENT: Es gäbe genügend StudentInnen, die in dieses Fach gehen würden – sie finden nur keine Ausbildungsstelle?
Fliedl: Leider nein. Das Interesse an unserem Fach ist gering. KinderpsychiaterInnen und vor allem KinderärztInnen gehören quasi zum Armenhaus der Medizin. Es ist lukrativer Chirurg, Orthopäde oder Internist zu werden, in diesem Bereich können viele Klassengelder verdient werden. Das gibt es in dem Bereich praktisch nicht. Außerdem können Kinder nicht mit einer 5-Minuten-Medizin abgefertigt werden. Ein Erstgespräch mit Eltern und Kind dauert mindestens zwei Stunden – und da bekomme ich oft nur eine leise Ahnung, was bei dieser Familie los ist.
Leider liegt bei den Aufnahmeprüfungen für das Medizinstudium der Fokus vor allem auf logischem Denken und räumlichem Vorstellungsvermögen. Es wird zu wenig Wert auf Empathie oder andere soziale Fähigkeiten gelegt. Das führt aber dazu, dass es nicht nur im Bereich der Kindermedizin Probleme gibt, es wollen auch immer weniger AllgemeinmedizinerInnen werden.
MOMENT: Das hört sich alles danach an, dass der Versorgungsmangel in Zukunft noch zunehmen wird. Doch die Corona-Krise führt zu einem Anstieg an psychischen Krankheiten. Wie sehr leiden Kinder und Jugendliche?
Fliedl: Die Anzahl der Menschen mit schweren psychischen Krankheiten, wie Schizophrenie oder Neurosen bleibt weltweit kontinuierlich gleich, hier ist keine Steigerung zu erwarten. Doch jetzt gibt es schon Studien, die zeigen, dass Depressionen bei Kindern und Jugendlichen zunehmen. Das verwundert ja auch nicht.
Wir haben aber bestimmt noch nicht das Ende der Fahnenstange in dieser Krise erreicht. Wir zählen zwar jeden einzelnen Corona-Toten, aber wir sehen nicht das Ausmaß der psychosozialen Folgen. Bereits jetzt steigt die Zahl der Wegweisungen, das heißt, dass viele Kinder und Jugendliche Gewalt zu Hause erleben. Vieles wird aber erst später sichtbar werden. Zum Beispiel gibt es zahlreiche Kinder, die unter sozialen Ängsten leiden und sich generell nicht in die Schule trauen. Wie es ihnen geht und ob sich ihre Ängste verschlimmert haben, können wir nicht einmal abschätzen. Das werden wir wohl erst sehen, wenn die Schulen wieder normal öffnen.
MOMENT: Wurde bei den Corona-Maßnahmen zu wenig auf die psychosozialen Auswirkungen geachtet?
Fliedl: Das denke ich schon. Sarkastisch formuliert: Da hätten sich wohl besser ein paar Kinder in der Schule infiziert, als beim Skifahren. Ich glaube, dass vor allem im ländlichen Bereich hätten viel leichter kreative Lösungen gefunden werden können. Da gibt es oft nur kleine Schulen und wenn das Dorfwirtshaus eh nicht aufsperren kann, dann soll halt der Unterricht dort stattfinden. Aber an den Entscheidungen der Politik in den letzten Jahren ist generell ersichtlich, dass die Situation von Kindern und Jugendlichen nicht die größte Priorität hat.
MOMENT: Es gibt immer wieder Diskussionen darüber, ob psychische Krankheiten und Störungen bei jungen Menschen zunehmen. Ist das so?
Fliedl: Ich glaube nicht, dass die heutigen Kinder und Jugendlichen “gestörter” sind als früher. Es ist nur schwieriger heute in diese Welt zu passen und all die hohen Erwartungen zu erfüllen. Viele Schulstreiche meiner Generation würden heute ein Nachspiel vor der Polizei haben, oder die Verantwortlichen auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie landen.
Familien stehen heute generell unter einem viel größeren Druck als früher und das hat sich in der Krise nochmals verschärft.
MOMENT: In der Bevölkerung macht sich ja generell aufgrund des langen, nicht enden wollenden Lockdowns langsam Frustration breit. Antriebslosigkeit, Ängste oder Schlafstörungen haben viele. Doch bei welchem Verhalten von Kindern und Jugendlichen sollten die Alarmglocken schrillen? Wann braucht es wirklich professionelle Hilfe?
Fliedl: Das ist schwer zu sagen, aber ein Parameter ist, wenn das Verhalten nicht mehr zu verstehen ist. Wenn das Kind sich komplett zurückzieht, Schlafstörungen hat, grundlos weint. Ich sehe aber auch, dass mittlerweile auch brave SchülerInnen, die im ersten Lockdown noch brav alle Arbeitsblätter ausgefüllt, nun keine Lust mehr haben. Aber das ist ja auch wiederum verständlich.
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