34 Jahre ÖVP in der Regierung und plötzlich hat die Kurz-Partei einfach wirklich viel Pech
Die Fehler, Skandale und Versagen der österreichischen Politik nehmen derzeit ein atemberaubendes Tempo auf. Erstaunlich ist, mit welcher Frequenz vor allem die ÖVP in den vergangenen Monaten in Fettnäpfchen und schlimmere Dinge getappt ist. Die Partei von Bundeskanzler Sebastian Kurz ist seit 34 Jahren in der Regierung (von wenigen Bierlein-Monaten abgesehen). Es wirkt aber, als hätte sie bei ihrer Verwandlung zur „Neuen Volkspartei“ sämtliche Erfahrung aus der Zeit mit über Bord geworfen.
Lassen wir uns die Highlights der vergangenen Monate kurz durch den Kopf gehen.
Innenminister im Pech
Karl Nehammer, der Innenminister und davor ÖVP-Generalsekretär, wandelt schon lange an der Grenze zum Rücktrittsgrund. Man erinnert sich daran, als er der Stadt Wien in einer eilig einberufenen Pressekonferenz ausrichten ließ, sie solle doch gefälligst die Polizei zur Nachverfolgung von Corona-Fällen einsetzen. Das war eine politische Entgleisung, die nach Wahlkampf aus dem Ministeramt roch. Doch im vergleichenden Rückblick war es fast ein harmloser Ausrutscher. Über sein Versagen oder seine Verweigerung, die Abschiebung von in Österreich geborenen Teenagern zu verhindern, mag ein weltanschaulicher Streit herrschen – ebenso darüber, dass er nach dem Brand Moria die dort obdachlos gewordenen tausenden Menschen pauschal nicht aufnehmen wollte, weil „gewaltbereite Migranten keine Chance auf Asyl in Europa“ hätten.
Aber spätestens seit eine von der FPÖ goutierte Demo gegen Corona-Maßnahmen mit kräftiger Rechtsextremen-Beteiligung aus dem Ruder lief, wird auch Konservativen ein Fragezeichen über die Eignung des Polizei-verantwortlichen Innenministers kommen. Also eh nur dann, falls es ihnen nicht schon genügte, dass der Verfassungsschutz (das ist der mit den ÖVP-Netzwerken) unter Nehammers Verantwortung bei der Terrorabwehr gehörig versagt hat. Der Anschlag in Wien wäre bei besserer Arbeit im Ministerium vielleicht verhinderbar gewesen. Dazu steht der unaufgeklärte Verdacht im Raum, dass er die Untersuchung behindert haben könnte, weil er an brisanten Stellen geschwärzte Akten übermittelte.
Finanzminister in Nöten
Gernot Blümel, der Finanzminister und Wienwahl-Spitzenkandidat der ÖVP, stand bereits in der Kritik, als er im vergangenen Jahr wochenlang Beihilfen für Unternehmen nicht auszahlen konnte, weil sein Ministerium einen dafür nötigen Antrag bei der EU-Kommission einfach nicht richtig begründen konnte. Er und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger scheiterten relativ peinlich daran, das der EU umzuhängen. Europa durfte einmal nicht der Sündenbock sein, muss sich also damit zufriedengeben, dass der heimische Tourismus großzügig Corona am Kontinent verteilt.
Zurück zu Blümel. Die Frage nach seinen Laptops und Festplatten beschäftigt das Land seit langem. Zuletzt wurde bekannt, dass er einem parlamentarischen Beschluss zum Kampf gegen Steuertricks auf EU-Ebene nicht gefolgt ist. Nun wird er als Beschuldigter in einem Verfahren der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft geführt. Es wird ermittelt, ob der Pechspielkonzern Novomatic illegale Parteispenden an die ÖVP getätigt und dafür Gegenleistungen bekommen hat. Blümel ist damit nach dem türkisblauen Ex-Finanzminister Hartwig Löger auch nur der zweite ÖVP-Finanzminister, der es im Februar mit der WKStA zu tun bekam. Blümel bestreitet. Es gilt überall und immer die Unschuldsvermutung.
Wenn sich die unglückliche Sache schließlich klärt, kommen wir vielleicht zu den recht einfachen Fragen des politischen Handwerks, warum Staatshilfen bei Corona oft nicht an Bedingungen (man denke an fehlende Dividendenverbote oder ausbleibende Arbeitsplatz– oder Standortgarantien) geknüpft wurden, oder warum sie keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen, oder warum sie nicht über die Finanzämter abgewickelt werden konnten oder wieso die Staatsbahnen ÖBB aufgrund von im Finanzministerium hängengebliebenen Mitteln inmitten der Klimakrise und Pandemie den Verkehr auf der Westbahnstrecke einschränken müssen.
Hier scheint sich ein Versuch anzubahnen, den kolossalen Fail des "Kaufhaus Österreich" als kreatives Scheitern nach Maßgabe der US Entrepreneurship-Kultur ("fail until you don't") zu framen. Steuergeld / Mitgliedsbeiträge zu verheizen ist aber nicht besonders unternehmerisch. pic.twitter.com/LUeDxXihzA
— Lukas Wiesboeck (@lukaswiesboeck) February 10, 2021
Wirtschaftspartei mit „Fuck-Up“-Mentalität
Margarete Schramböck, die Wirtschaftsministerin, hat gemeinsam mit Wirtschaftskammerpräsident und Parteifreund Harald Mahrer im Tandem der „DigitalisierungsexpertInnen“ 1,3 Millionen Euro im „Kaufhaus Österreich“ versenkt. Ein kolossaler „Fuck-Up“, dessen beste Eigenschaft vielleicht ist, dass niemand darüber redet, dass Österreich trotz der von Schramböck erkämpften, aber epidemiologisch riskanten Lockdown-Lockerung im Februar wirtschaftlich schlechter als fast komplett Resteuropa durch die Krise kommt.
Christine Aschbacher musste als Arbeitsministerin wegen Plagiatsvorwürfen zurücktreten. Ein fast lachhafter Grund im Vergleich zu den anderen genannten Vorwürfen, die im Raum stehen. Aber war der Rücktritt deshalb unverdient? Aschbacher schaffte in einer Pandemie aber fast ein Jahr lang keine ausreichenden gesetzlichen Regelungen für das Homeoffice, die aufgeschobene Gleichstellung von ArbeiterInnen und Angestellten kostete womöglich viele Jobs, die Langzeitarbeitslosigkeit entgleitet ohne große Gegentaten vollends und Arbeitslose müssen mit im Europavergleich niedrigen Mitteln und unzuverlässigen Almosen durch eine Wirtschaftskrise kommen.
Die lustigen Anderen
Es kommen im Vergleich fast (aber nicht wirklich) lustige Affären dazu. Die Gebetsstundevon Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka im Parlament (wo der wiederum wegen einer Novomatic-Überweisung an seinen Verein kritisierte Sobotka als Vorsitzender des Ibiza-Untersuchungssausschusses fragwürdig ist, weil er in den Themen des Ausschusses selbst dauernd vorkommt) mit Grußbotschaft der „nicht-feministischen“ Frauenministerin Susanne Raab. Oder etwa die Entscheidung im Außenministerium von Alexander Schallenberg, den Atomwaffenverbots-Vertrag mit einem Video einer Atomexplosion in Wien zu feiern.
Man wagt es angesichts dieser Liste an politischen Versagen kaum zu erwähnen, dass Verteidigungsminister Claudia Tanner kritisiert wurde, weil sie zu einer Heeresreform selbst nicht zu wissen schien, was sie ankündigt. Oder dass man bei Europaministerin Caroline Edtstadler nach einem schockierenden Interview in der ZiB 2 Zweifel haben musste, ob sie noch ein normales Gespräch führen kann.
Kanzler über den Dingen
Da Sebastian Kurz, wie uns sehr kluge, unabhängige JournalistInnen seit Jahren versichern, das größte politische Talent seit Jahrzehnten ist – einer, der regieren kann wie kein zweiter Mensch im Land – kann er an all diesen Dinge natürlich keine Schuld tragen. Er ist ja auch erst seit bald 10 Jahren in der Regierung. Nach zwei gesprengten Koalitionen mit der SPÖ (das wollte er so) und FPÖ (das wollte er wohl nicht, aber hätte es kommen sehen können) ist mit den Grünen mittlerweile auch der dritte Koalitionspartner ordentlich bedient (der hätte das wohl kommen sehen können).
Bei Problemen kochen immer zufällig Themen hoch, die dem Koalitionspartner (und vor allem Leuten, die auf ihn hoffen) so richtig weh tun. Ein Schelm wer dabei „Message Control“ denkt. Und während seine mittlerweile dritte Regierung als Parteichef und zweite als Kanzler munter vor sich hin bröckelt, mischt Kurz sich lieber in Dinge ein, die ihn wenig angehen – etwa mit politischem Druck auf die wissenschaftlich begründete EU-Impfmittelzulassungen. Zur Not gibt man anhimmelnden deutschen Rechtsmedien gern ein staatsmännisches Interview (auch wenn die Bewunderung im Nachbarland schwer nachlässt).
Die ÖVP schreit im 34. Jahr ihrer Regierungszeit förmlich nach einer Pause als Regierungspartei. Aber komme Pandemie, komme Wirtschaftkrise, komme Terroranschlag, komme Korruptionsskandal. Solange Sebastian Kurz „Balkanroute“ sagen kann, schwebt er wohl trotz allem in seinen Umfragehochs (wenn auch in minimal niedrigeren als einst). Wohl wissend, dass einander progressive und liberale Parteien im Zweifel immer gern zerfetzen (und ihm abwechselnd und ergänzt um die FPÖ weiter als Koalitionspartner zur Verfügung stünden). Und dass auch deshalb eine Mehrheit ohne ihn und seine Volkspartei, und damit auch eine Regierung ohne ihn und seine Personalauswahl nicht am Horizont zu erkennen ist.